von Georg Lutz

Seit über 20 Jahren trifft sich das Europa Forum in Luzern und ist ein Treffpunkt für die liberale Wirtschaftswelt der Schweiz. Das Thema Europa hat das Wirtschaftsforum immer begleitet. Es ging und geht um das Verhältnis von der Schweiz zu Europa. Will man sich aktiv einmischen oder eher an der Seitenlinie stehen, und welche Positionen beziehen liberale Politiker und Unternehmensverantwortliche? 

Der nüchterne Blick
Werfen wir zunächst einen kleinen Blick in die Geschichte. 1992 war das Jahr des ­abgelehnten EU-Beitritts. Liberale Politiker kämpften auf beiden Seiten, entweder für oder gegen den EU-Beitritt. Diese Auseinandersetzung und die Entwicklung seither wurden aber nicht reflektiert. Das wurde schon an der ersten Rede deutlich. Reto Wyss ist ein CVP-Politiker. Seit dem 1. Juli 2011 ist er Regierungsrat des Kantons Luzern und leitet das Bildungs- und Kulturdepartement. Am letzten Europaforum hielt er die Einleitungsrede, die den Bogen von 1992, als auch das Kongresszentrum KKL, das als Tagungsort geplant wurde, zur heutigen Situation schlug. Die Notwendigkeit des Europaforums Luzern fasst Wyss wie folgt zusammen: «Es braucht Plattformen, die das Thema nüchtern und entpolitisiert diskutieren.» Auch Philipp Gmür, CEO ­Helvetia Versicherungen, forderte, sich ­«politisch neutral» zu verhalten. Diese Aufforderung ist aus der liberalen Binnensicht verständlich, da man ja schon immer seine Sachkenntnis und Neutralität gegenüber rechten und linken Ideologien festgestellt hat. Allerdings gehen solche Positionie­rungen an der Realität vorbei, wie die ­Geschichte, aber auch die Tagung selbst verdeutlichte. Liberale Politik mischt sich ein, hat starke Lobbygruppen und muss selbst heftige Kritik einstecken. Die politische Arena ist kein neutraler Ponyhof. 

Kontroverse Positionen
Seit dem Ende der Blockkonfrontation 1990 stellte sich auch für liberale Positionen die Frage, wie sich die Schweiz in einer ­globalisierten Welt verortet. Ist der bilaterale Weg, der die Eigenständigkeit in den Mittelpunkt stellt, die beste Lösung, oder geht es um eine Annäherung an die EU, die die SVP so vehement bekämpft. Noch vor wenigen Jahren war das innerhalb der Liberalen noch ein Rahmen für kontroverse Diskussionen. Erinnert sei an dieser Stelle nur an die freisinnige Nationalrätin Christa Markwalder, die auch Präsidentin der Neuen europäischen Bewegung Schweiz (Nebs) war. Sie plädierte vehement für eine weitere Annäherung. Um diese Positionen ist es relativ still geworden, obwohl es sie heute auch noch gibt. Die Konfliktlinien ­laufen heute etwas anders, wie die Tagung verdeutlichte.

«Was sind unsere Zukunftsrezepte, angesichts der Turbulenzen rund um unser Land?» fragte Bundespräsident Johann Schneider-Ammann das Publikum anlässlich des öffentlichen Abends am 2. Mai am Europa Forum Luzern. 

Einige Ratschläge gab der Bundesrat und Vorsteher des Departments für Wirtschaft, Bildung und Forschung an der 30. Ausgabe des Europa Forum Luzern den über 1 000 Vertretern aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft: «Wir müssen ­unseren bilateralen Weg weitergehen. Denn auf Europa können wir nicht verzichten. Aber wir müssen auch unsere ­Diversifizierung mit den Freihandelsabkommen weiterverfolgen. Auf dem Spiel steht ein gutes Kuchenstück unseres Wohlstands!»

Europa im desolaten Zustand
Nur, was heisst dies nun, wenn man in eine ehrliche Bestandsaufnahme beim Thema Europa geht? Bereits am nachmittäglichen Symposium sprachen verschiedene Referenten von Herausforderungen der Europäischen Union und der gemeinsamen Währung. Dabei schälten sich zwei Positionen heraus. Das ehemalige Mitglied des Direktoriums der Europäischen Zentralbank, Jürgen Stark, sprach dabei von einem Europa in einem «desolaten Zustand». Die Flüchtlingskrise, der drohende Ausstieg von Grossbritannien aus der EU sowie die wirtschaftlichen Probleme von  Griechenland seien eine Zerreissprobe für die Staatengemeinschaft, die die Politik zu überfordern drohe. Er sprach von einer «echten Zerreissprobe». Wie eine Bugwelle würden die Politiker die Probleme vor sich herschieben und sich bestenfalls Zeit kaufen. Im Konkreten sprach Stark die Tragfähigkeit der öffentlichen Schulden an, die nicht nur in Griechenland, sondern auch in Italien einen gefährlichen Stand erreicht hätten. Die Schaffung des Binnenmarktes mit einer Währung und keinen Grenzen sei ein historischer Fortschritt gewesen, allerdings stellt sich der Binnenmarkt heute als «Schönwetterveranstaltung» dar, der mit Krisen nicht umgehen könne und in nationale Egoismen zu zerfallen drohe. Die Ordnung drohe zu zerfallen. Rhetorisch frage Stark nach der Hüterin der Verträge der Kommission. Der Europäischen Zentralbank widmete er seinem Vortrag verständlicherweise einen eigenen Part. Die aktuelle EZB ist für ihn in eine Rolle der «Selbstermächtigung» geschlüpft. Er brachte die aktuelle Strategie der Niedrigzinspolitik wie folgt auf den Punkt: «Wir holen Papier aus dem Keller und erklären es für Geld.» Für Stark sind niedrige Zinsen ein wichtiges Mittel. Die Grenzen seien aber klar erreicht. 

Europa kennt Krisen
Die Gegenposition nahm unter anderem Luc Frieden ein. Er war Finanzminister in Luxemburg und ist heute Vice Chairman bei der Deutschen Bank. Für Luc Frieden ist die Geschichte der EU, früher EWG, eine Aneinanderreihung von Krisen, aus der sich die Verantwortlichen immer wieder herausgeschält hätten. Das historische Beispiel war für ihn die französische Politik des leeren Stuhls in den Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts. Das aktuelle Beispiel war für Frieden der Euro. Zunächst wurde der Euro aus seiner Sicht euphorisch abge­feiert, wenige Jahre nach seiner Einführung war er für viele Experten ein Auslaufmodell. «Der Euro hat aber überlebt!» Neben der Alltagspolitik plädierte er für eine Union, die sich auch grundsätzlich definiert. Immer wieder zitierte er dabei einen der Gründerväter Europas, Jean Monnet. Es stellt sich an dieser Stelle nur die Frage, wo es aktuell in Europa solche Visionäre gibt, die Europa neben der Alltagspolitik Sinn geben können und neben dem notwendigen Krisenreaktionsmodus auch in die Zukunft schauen? Für Frieden ist die Politische Union kein «Superstaat», wie ihn viele sehen. Es bräuchte an einigen Stellen aber Vertiefungen. 

Das liberale Waterloo der Deutschen Bank
Ebenfalls optimistisch schätzte der ehemalige Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank, Josef Ackermann, die Lage ein: «Solange der politische Wille da ist, und die Wirtschaft daran glaubt, wird es nicht zum Auseinanderbrechen des Euro kommen.» Dabei gilt es aus meiner Sicht aber seine Rolle selbst zu hinterfragen. Die Finanzkrise von 2007 war und ist das praktische und theoretische Waterloo der liberalen Welt­bilder. Eigentlich dürfte es solche Krisen nach dem Lehrbuch nicht geben. Eine Krise hat Josef Ackermann unternehmenspolitisch mit zu verantworten. Und das ist die Krise seines ehemaligen Hauses, die der Deutschen Bank. Weltweit gibt es aktuell um die 6 000 Prozesse und 180 aufsichtsrechtliche Verfahren gegen die Deutsche Bank. Von Einzelfällen mag hier niemand mehr sprechen. Es geht um Geldwäsche, Steuerkriminalität und Zinsmanipulationen. Inzwischen ist das Vertrauen der Aufsichtsbehörden geschrumpft, und es muss ­immer mehr Geld für Rechtsstreitigkeiten aufgewendet werden. Wie passt das in das liberale Weltbild von Josef Ackermann, wie es in der Schweiz immer noch gerne gepflegt wird?

Handlungsbedarf mit Luft nach oben 
Jacques de Watteville, Schweizer EU-Chef­unterhändler, ordnete die aktuelle Lage Schweiz/Europa ein: Wegen der «Brexit-Gefahr» wolle die EU erst einmal das Resultat der Abstimmung in Grossbritannien abwarten, darum habe die Schweiz derzeit nicht oberste Priorität bei der EU. Das kann sich aber ändern, wenn die Brexit-Abstimmung durchgehen sollte. Dann droht eine neue Aufwertungswelle. 

KMU und der Anpassungsdruck
Die schwierige Währungssituation und wie die Unternehmen damit umgehen können war auch ein Thema auf einem kontro­versen Panel. Jan Mischke, Senior Fellow McKinsey Global Institute, sah nach wie vor viel Potenzial bei der europäischen Wirtschaft, und mit Blick auf die Schweiz betonte er, Produktivitätswachstum sei die beste Antwort auf eine starke Währung. Wie sich die Schweizer Wirtschaft in diesem schwierigen Umfeld behaupten soll, diskutierten führende KMU-Vertreter wie Adrian Pfenniger von Trisa, Katharina Lehmann von Blumer-Lehmann und Franziska A. Tschudi Sauber von Wicor. Auf diesem Panel wurde deutlich, wie stark die KMU der Schweiz unter der aktuellen Währungssituation Franken/Euro leiden. Hier braucht es praktische Konzepte und politische Visionen, die der Renaissance von nationalistischen und chauvinistischen Ideen, die man überall in Europa beobachten kann, entgegengestellt werden können. Dazu können Liberale wichtige Impulse geben. 

Kurzporträt Europa Forum Luzern
Das Europa Forum Luzern ist die führende nationale Veranstaltung zu Fragen über Europa und die Schweiz. Namhafte Persönlichkeiten aus dem In- und Ausland tauschen im KKL Luzern ihre Meinungen und Standpunkte aus. Das Europa Forum Luzern informiert unabhängig und neutral über die neusten Entwicklungen in Europa und deren Auswirkungen auf die Schweizer Wirtschaft und Politik. Die Veranstaltungen stehen unter dem Motto Wirt-schaft, Wissenschaft und Politik im Dialog und finden jährlich zweimal im Frühjahr und Herbst statt. Dem Europa Forum Luzern unter dem Vorsitz des Stadtpräsidenten von Luzern gehören Kanton und Stadt Luzern sowie private Körperschaften an.

Weitere Informationen:
www.europaforum.ch