Die Situation ist bekannt: «Guten Tag, ich habe mein Passwort vergessen, bitte senden Sie mir ein neues zu.» Diese einfache Anfrage ist der mit Abstand häufigste Fall, wenn ein Kunde die E-Banking-Hotline seiner Bank anruft. Der Kunde kennt seine Bank, und die Bank kennt ihren Kunden. Über ein paar wenige Fragen am Telefon kann die Bank den Kunden rasch identifizieren und ihm per Post sein neues Passwort zusenden. Das ist die alte Welt.

In der neuen Welt ist das Guthaben verloren, wenn das «Passwort» (private Key) eines «Wallets» verloren geht. Wallet ist die Bezeichnung für das Konto im Geldverkehr mit Bitcoins, die gegenwärtig mit Abstand wichtigste Anwendung der Blockchain-Technologie. Wallets sind nichts anderes als eine scheinbar zufällige Aneinanderreihung von rund 30 Zahlen und Buchstaben, die jeder auf Knopfdruck generieren kann. So viele er will. Niemand braucht sich zu registrieren, alles ist 100 Prozent anonym. Wer allerdings seinen Zugang zum Wallet verliert oder von einem Hacker böswillig beraubt wird, ist bei vielen Plattformen ebenfalls der Anonymität ausgeliefert. Es gibt keine Hotline, niemand kennt Sie, und Sie erhalten kein neues Passwort. Das ist die neue Welt.

Verschiedene Anbieter schliessen die ­Lücken zwischen den Annehmlichkeiten der alten Welt und den Möglichkeiten der neuen Welt. Da wäre beispielsweise die Firma Xapo, welche die Schweizer Berge für ihr Angebot einer sicheren «Tresor­verwahrung» von Bitcoins im Bunker nutzt. Daneben ist Xapo vor allem dafür bekannt, dass sie in Kooperation mit Visa eine ­Debit-Karte für Bitcoin-Guthaben bietet. Endlich kann man damit mit Bitcoins wie gewohnt im Alltag bezahlen. 

Bitcoin und andere Kryptowährungen proklamieren die Revolution des Geldes als Tauschmittel: eine vollkommen neue Art Geld zu überweisen ohne irgendwem ­Rechenschaft schuldig zu sein und ohne auf zentrale Institutionen angewiesen zu sein. Dennoch sind es ausgerechnet die Services der alten, bestehenden Finanz­welt, die es für die meisten überhaupt erst interessant machen, neue Kryptowährungen in Betracht zu ziehen: Plastikgeld in Form von Debitkarten beispielsweise oder eine sichere Verwahrung im Safe. Parallel dazu folgt auch dieselbe Kritik, wie wir sie kennen. Die Debit-Karte kostet Gebühren, was prompt kritisiert wird. Das ist alles andere als neu.

Die Technologie und ihre Geschäftsmodelle
Eine Blockchain ist im Grunde genommen eine Datenbank, die alle Trans­aktionen eines bestimmten Guts oder Rechts wie ein Journal festhält. Das Spezielle daran ist, dass die Datenbank auf mehreren, in der Regel sehr vielen, Rechnern gleichzeitig gespeichert ist, die über das Internet miteinander verbunden sind. Dezentralität ist das zentrale Stichwort. Einzelne Transaktionen werden in sogenannten «Blocks» einzeln durch alle am Netzwerk beteiligten Rechner verifiziert und erst wenn die Mehrheit deren Korrektheit bestätigt, definitiv in die Blockchain integriert. Die einzelnen Blocks ­enthalten jeweils die Prüfsumme der  vor­angegangenen Blocks. Insgesamt ergibt sich durch diese Verknüpfung die fak­tische Unmöglichkeit, einen Block im Nachhinein zu ändern. Zusammen mit ­einer starken Verschlüsselung und der dezentralen Speicherung und Verifizierung gelten Daten in einer Blockchain als fälschungssicher. Allerdings gilt diese ­maximale Sicherheit nur für die Daten in der Blockchain, nicht für die Verwahrung eines erworbenen Guts oder Rechts oder für den Zugang dazu. 

Ein Transaktionsjournal, das nicht veränderbar ist und gleichzeitig Transparenz und Anonymität gewährt, kann einen sehr hohen Nutzen stiften. Ein gutes Beispiel ist die Lösung von Everledger. Everledger hat auf Basis ihrer Blockchain-Technologie rund eine Million Diamanten auf Basis von 40 Qualitätsmerkmalen identifiziert und ­erfasst. Ein Verkauf dieser Diamanten ist nur möglich, wenn die Mehrheit der angeschlossenen Händler, Minengesellschaften und auch Versicherungen die Korrektheit der Transaktion bestätigen. Die Transaktionen sind nicht veränderbar. Fälschung ist ausgeschlossen. Neben dem eigentlichen Kundennutzen, nämlich der Sicherheit, dass der Diamant in Ordnung ist und die Besitzverhältnisse geklärt sind, entsteht auch ein allgemeiner Nutzen, indem der Handel mit Blutdiamanten erschwert und dereinst vielleicht ganz unterbunden wird.

Viele weitere Geschäftsmodelle sind eingeführt oder befinden sich in der Entwicklung. Als Beispiele seien genannt: Zahlungsverkehr, Autovermietung, E-Voting und im ­Gesundheitswesen, beispielsweise durch ein persönliches Gesundheitsdossier. 

Die Dilemmas am Beispiel Bitcoin
Service versus Anonymität: In Zeiten, in welchen das Kundenerlebnis das Mass aller Dinge ist, fällt auf, dass ausgerechnet die Anwendungen zu Bitcoin (Marktplätze, Wallets) visuell, inhaltlich und vom gebotenen Service im Vergleich zu etablierten Finanzanwendungen wie E-Banking weit abfallen. Tatsache ist, dass diejenigen ­Bitcoin-Anwendungen, die ein besseres Kundenerlebnis bieten, jene sind, die die Anonymität aufheben. Beispielsweise gibt es viele etablierte Marktplätze für Bitcoin, die einen umfassenden Service bieten. Hier muss man sich jedoch registrieren, oftmals mit offiziellem Identitätsnachweis und Bank-Kontoverbindung. 

Dezentrale Sicherheit versus Energie­verschleiss: Die Idee einer dezentralen ­Verifizierung von Transaktionen und die Speicherung einer sehr grossen Datenbank («Blockchain») in einem dezentralen Netzwerk bedeuten auch, dass Tausende Rechner Strom brauchen, um alle das Gleiche zu rechnen. Der Energiebedarf nimmt aufgrund der zunehmenden Komplexität exponentiell zu. Schon heute entspricht der Energieaufwand für eine einzelne Bitcoin-Transaktion gemäss Wissenschaftlern dem durchschnittlichen Stromverbrauch von rund 1.6 US-Haushalten. Rechnet man diesen Energiebedarf für alle Bitcoin-Transaktionen hoch, ergibt sich für das Jahr 2020 ein Strombedarf, der so hoch ist wie der Strombedarf des Staates Dänemark! Auch wenn dies nur eine Hochrechnung ist, die auf Annahmen basiert, so wird klar, der ökologische Aspekt ist keine Nebengrösse. Man braucht kein Umweltaktivist zu sein, um diese Energieverschwendung infrage zu stellen. Von der Hardware, die bereits nach zwei Jahren veraltet ist, haben wir noch gar nicht gesprochen.

Dunkle Motive versus Regulierung: Regulierung macht Prozesse aufwändiger, das ist eine Tatsache. Regulierung ist nicht immer zielführend, auch das ist eine Tatsache. Keine Regulierung hingegen öffnet Tür und Tor für Missbrauch. Im Kampf gegen ­Geldwäscherei beispielsweise nimmt die Schweiz international an vorderster Front teil und hilft entscheidend mit, Kriminalität zu bekämpfen. Für Banken und deren Kunden ergeben sich durch die damit zusammenhängenden Sorgfaltspflichten zusätzliche Abklärungen und Einschränkungen. Demgegenüber kennt ein Netzwerk wie Bitcoin keinerlei Regulierung. Es ist kein ­Zufall, dass die Hacker-Angreifer, die vor einigen Monaten Schweizer Online-Shops erpresst haben, sich über Bitcoin bezahlen lassen wollten. Wer im versteckten Teil des Internets – im Darknet – Waffen, Drogen oder Auftragsmorde beziehen will, bezahlt in der Regel ebenfalls mit Bitcoin. 

Menschliches Versagen versus Fehler im Code: Fehler passieren. Aus Fehlern kann man lernen. Wenn einem Sachbearbeiter ein Fehler unterläuft, beispielsweise eine zweifache Belastung einer Rechnung, kann er diesen auf Hinweis korrigieren: Liegt der Fehler in einem Programmcode in einem nicht umkehrbaren System ohne verantwortliche Instanz, wird es unmöglich, darauf zu reagieren. Zu sagen, es kann ­keinen Fehler im System geben, hat sich in der Vergangenheit noch nie bewahrheitet. Es gibt in jedem System Fehler. 

Zentrale Institutionen versus unbekannte Machtzentren: Zentrale Institutionen sind sehr exponiert und werden in unseren Breitengraden entsprechend oft kritisiert. Dies ist wichtig, als Gegengewicht zur Machtfülle. Um ein aktuelles Beispiel zu nennen: Zentralbanken greifen seit Jahren intensiv in den Markt ein und sorgen für eine noch nie dagewesene Geldschwemme. Kritik kann man an die Zentralbanken ­adressieren und eine öffentliche Debatte lostreten. Bitcoins hingegen kann jeder herstellen, wenn er die entsprechende Rechenleistung erbringen kann. Inzwischen sind die Hardware-Anforderungen so hoch, dass nur professionell organisierte Gruppen, sogenannte Mining Companies, mithalten können. Diese validieren auch alle Bitcoin-Transaktionen. Fakt ist, dass gegen 60 Prozent aller Bitcoins in China «gerechnet» werden. Das heisst auch, dass die Mehrheit der Bitcoin-Transaktionen in China validiert wird. Das ist eine Mehrheit, die keinerlei Kontrolle ­unterliegt.

Blockchain hat Zukunft – Bitcoin nicht
In zehn Jahren wird Bitcoin als der erste Meilenstein in der Verbreitung der Blockchain-­Technologie in die Geschichtsbücher ­eingehen. Bei aller Faszination für die ­Genialität und Radikalität von Bitcoin: Bitcoin braucht es nicht. Blockchain hingegen schon. Schon heute gibt es zahlreiche Anwendungen mit Blockchain-Logik, welche die geschilderten Dilemmas für den Nutzer zusehends neutralisieren. Die Verbreitung der Blockchain-Technologie ist jedoch nicht vergleichbar mit der Öffnung des Internets Anfang der 90er-Jahre, wie bisweilen behauptet wird. Während das Internet ein einziges Netz durch Standardisierung (http) allen auf einmal zur Verfügung stellt, wird die Idee der Blockchain in unterschiedlicher Ausprägung in vielen, verschiedenen offenen wie auch geschlossenen Netzwerken schrittweise realisiert. Blockchain ist in der Regel für den Endnutzer nicht sichtbar, und wir werden am Ende nicht wissen, wo überall Ideen der Blockchain enthalten sind. 

Weitere Informationen:
www.cic.ch