Das zentrale Werkzeug von Simon Sagmeister ist die Culture Map.

Unternehmenskultur ist zunächst eine schwer greifbare Angelegenheit. Natürlich ist sie gerade in den aktuellen Umbruch- und Transformationsphasen wichtig. Aber wie kommen wir über oberflächliche Beschreibungen hinaus? Mit Simon Sagmeister vom The Culture Institute aus St. Gallen finden wir im folgenden Interview nicht nur zu dieser Frage Antworten.

Das Thema Unternehmenskultur ist ein weites Feld. Als Sozialwissenschaftler steige ich gerne mit einem historischen Blick ein, da man die Unterschiede und Entwicklungen deutlicher aufzeigen kann. Ältere Menschen kennen noch alte Unternehmenskulturen, die auch damals von Technik und Arbeitsorganisation geprägt waren. Vor fünfzig Jahren war dies das fordistische Akkumulationsregime mit seinen Fliessbändern und der tayloristischen Arbeitsorganisation. Dies spiegelte sich dann auch in den Büros wider. Die Unternehmenskultur war sehr hierarchisch organisiert. In den Achtzigerjahren stiessen diese Modelle an Grenzen. In der Automobilindustrie tauchten die ersten Schweissroboter auf und bei Volvo experimentierte man mit Fertigungsplattformen. Im Office gewannen Grossraumbüros an Bedeutung. Heute stehen wir mitten in der digitalen Transformation. Können Sie aus Ihrer Sicht die damalige Situation und die Übergänge skizzieren?
Was Sie ansprechen, spiegelt die zentralen Herausforderungen von Unternehmen in unseren Breitengraden wider. Daraus ergibt sich dann auch die Beantwortung der Frage, warum Unternehmenskultur so ein wichtiges Thema ist. Noch vor zwanzig Jahren, als ich studiert habe, war das Thema Kultur in Unternehmen ein Nischenthema. Die Verantwortlichen setzten es beispielsweise ein, um den rhetorischen Rahmen für ein Sommerfest zu gestalten. Mit dem Thema Unternehmenskultur hätten Sie damals nie einen Vorstandstermin bekommen. Demgegenüber erlebe ich heute jeden Tag, wie Vorstände ihre Unternehmenskultur prägen und bewusst gestalten wollen.

Wo liegen hier die Gründe?
Hier gilt es, mindestens zwei Antworten zu geben. Erstens sind es die gestiegenen Anforderungen an die Funktionalität des Unternehmens. Und zweitens geht es um die gestiegenen Anforderungen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

Und was bedeutet dies konkret?
Ich kann heute ein Unternehmen nicht mehr wie im Zeitalter von Henry Ford mit seinen tayloristischen Prozessen führen. Damals wusste der Chef – Chefinnen gab es damals noch kaum – auf allen sehr klaren Hierarchiestufen, wo es langging. Zusammengefasst ging das so: Wenige machen den Plan, alle halten sich an die Vorgaben und dann ist alles gut. Das ist aber keine lernende Organisation, die es heute dringend braucht. In der VUCA-Welt (Volatility, Uncertainty, Complexity und Ambiguity) ist die wichtigste Erfolgsgrösse die Steilheit der Lernkurve. Letztendlich geht es darum, schnell zu lernen – und nicht nur an der Spitze. Die Organisation muss als Ganze agil, resilient und anpassungsfähig sein. Solch ein Modell kann ich nicht mit Kommando und Kontrolle führen. Im Gegenteil, ich muss einen Organismus aufbauen, der selbst lebensfähig ist. Und entscheidend ist dabei, an welchen Werten sich dieser Organismus orientiert. Aus diesem Grund steuern Unternehmensverantwortliche heute mehr über die Unternehmenskultur als über direkte Interventionen.

Und die zweite Antwort?
Diese bezieht sich auf den Anspruch der Menschen, die in Unternehmen arbeiten. Wenn wir uns anschauen, welches die beliebtesten Arbeitgeber sind, und daneben eine Liste mit jenen Unternehmen legen, die am meisten bezahlen, dann sehen wir, dass die Korrelation gering ist. Es zeigt sich, dass für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer die Unternehmenskultur ein ganz wichtiger Faktor ist. Gerade die fähigsten Köpfe fragen sich immer wieder: Will ich dort wirklich arbeiten? In einer fordistischen Fabrik würde von denen niemand mehr arbeiten wollen. Kultur ist auch auf dieser Seite ein Schlüsselthema, um als Unternehmen erfolgreich zu sein.

Das hört sich auf der einen Seite sehr smart an. Wir müssen zwar sehr viel mehr lernen, haben gleichzeitig aber mehr Freiheiten und mehr Eigenverantwortung, können mehr in Teams agieren und haben flachere Hierarchien. Aber sieht das in der Praxis nicht ganz anders aus, ist das nicht ein Wunschbild von Unternehmensberatern? In der Praxis hat man plötzlich wieder den Chef als klassischen Patron vor sich, der alles unter Kontrolle haben will. Diese Denke ist doch nicht verschwunden. Auf der anderen Seite gibt es auch Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die sich anlehnen wollen. Sie brauchen einen klaren Rahmen und einen Chef, der ihnen zeigt, wo es langgeht.
Viele etablierte Organisationen kommen im Vergleich zu den neuen Playern aus dem Industriezeitalter – etwas spöttisch könnte man sagen, sie stammen alle aus dem letzten Jahrtausend. Auch agieren Arbeitnehmer und Arbeitgeber häufig noch in den von Ihnen geschilderten Mustern.

Und das gilt nicht nur für Unternehmen. Unsere Schulen, Universitäten oder das Militär agieren ja nicht gerade in flachen Hierarchien und stammen in Teilen von ihren Grundstrukturen her aus dem neunzehnten Jahrhundert.
Ja, sie haben uns fast alle geprägt. Auf der anderen Seite kommen jetzt neue Unternehmen und andere Organisation auf den Markt, die beispielsweise Freiheit über Sicherheit stellen, und das färbt auf die alten Organisationen ab. Lassen Sie es mich mal auf den Punkt bringen: Allein mit dem Versprechen, 20 Jahre den gleichen Job machen zu können, bekommt man doch heute keine guten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mehr.

Ohne Frage finde ich die neue Freiheit in den Co-Working-Center, die gerade wie Pilze aus dem Boden schiessen. Aber finde ich diese neue Welt auch in einer alten Versicherung aus dem zwanzigsten Jahrhundert? Wo stehen wir bei dieser Entwicklung? Ist das noch Nische oder schon Mainstream?
Wir sind auf dem Weg in den Mainstream. Wenn Sie heute in eine Bank oder Versicherung gehen, sehen Sie auch schon Bereiche, die wie Co-Working-Spaces aussehen. Zugegeben oft sind noch nicht alle davon betroffen. Aber der Trend ist klar. Vor zwanzig Jahren gab es die vielen Einzelbüros mit den grauen Gängen noch. Heute sind sie weitgehend verschwunden.

Lassen Sie uns in die Realität Ihrer Praxis springen. Aus welchen Gründen wollen Unternehmensverantwortliche ihre Unternehmenskultur verändern oder verbessern? Braucht es dazu ein Ereignis, vielleicht sogar eine Katastrophe? Wir kennen das aus der Politik: Nach Fukushima steige ich aus der Nutzung der Atomenergie aus.
Veränderung braucht auf jeden Fall Energie. Hier gibt es nun zwei mögliche Szenarien. Das eine Szenario könnte man mit dem Leitsatz «Fighting the Dragon» beschreiben. Wir müssen uns verändern, sonst haben wir ein Problem. Das andere Szenario läuft unter dem Motto «Winning the Princess». Das beruht auf einem positiven Zukunftsbild. Wir verändern die Welt und orientieren uns an Apple und nicht an Kodak. Das vermittelt nach innen und aussen positive Energie.

Das muss aber nicht auf einen Schlag geschehen. Es lassen sich sehr unterschiedliche Beispiele von Kulturentwicklung anführen. Es gibt viele Unternehmen, die sich über Jahrzehnte und Generationen kontinuierlich kulturell fit halten. Sie arbeiten ganz bewusst und ständig an ihrer Unternehmenskultur. Das erinnert an die persönliche Fitness. Wer hier kontinuierlich arbeitet, erspart sich oft eine Notoperation.

Gibt es, wenn Sie mit einem Unternehmen arbeiten, verallgemeinerbare Arbeitsschritte?
Ja, da gibt es Gemeinsamkeiten. Im ersten Schritt blickt man auf die heute vorherrschende Kultur. Man reflektiert, wie wir als Unternehmen ticken. Die Kulturmuster sind ja nicht vom Himmel gefallen, sondern bestehen über einen längeren Zeithorizont im Unternehmen. Häufig sind sie die Erfolgsrezepte der Vergangenheit. Da sind auch viele positive Momente dabei und diese müssen wertschätzend verstanden werden.

Sie setzen nicht auf disruptive Momente, bei denen alte Strukturen zerschlagen und dann neu aufgesetzt werden?
Da möchte ich an den alten St. Galler Management-Grundsatz der Stärkenorientierung erinnern. Es ist immer gefährlich, auch bei der Unternehmenskultur, Stärken abzuschneiden.

Im Rahmen des zweiten Schrittes geht es daher zuerst um den Blick nach aussen. Was passiert eigentlich um uns herum? Beim dritten Schritt steht dann die Frage im Vordergrund: Was braucht es, um in der Zukunft gut aufgestellt zu sein? Daran schliessen sich konkrete Massnahmen an.

Dabei geht es um zwei Ebenen, die systemische und die individuelle. Auf der systemischen Ebene hat man die grossen Hebel zur Verfügung. Das sind häufig die «klassischen» HR-Themen, zum Beispiel «Wie entlohne ich?» oder «Nach welchen Kriterien wird befördert?».

Die zweite ist die persönliche Ebene. Menschen machen täglich Kultur, durch ihre Haltungen und ihre Handlungen. Als aktive Kulturbeweger können sie die Entwicklung bewusst und zielgerichtet mitgestalten. Dafür gilt es, Erkenntnis, Energie und Know-how zu schaffen.

Es braucht aber sicher einen Monitoring-Prozess?
Es ist hier wichtig, die operativen Schritte immer wieder zu bewerten. Es braucht die schonungslose Aufklärung darüber, was Erfolg auslöst und wo ich Misserfolge sehe. Das kann ich dann an qualitativen und quantitativen Faktoren festmachen.

Wir erleben manchmal, dass man das Gefühl hat, in einem fahrenden Zug zu sitzen. Man spürt kaum, wie er fährt, und trotzdem kommt man gut voran. Das merkt man an Menschen, die das Unternehmen ein, zwei Jahre verlassen haben und dann wiederkommen. Sie sind dann oft erstaunt und sagen sich: «Mensch, da hat sich ja einiges verändert.»

Gibt es eigentlich Branchenunterschiede bei Veränderungen? Nehmen wir mal die digitale Transformation als Beispiel. So kann man sich in der Baubranche etwas mehr Zeit lassen als bei uns in der Medienbranche. Oder stimmt das gar nicht?
Ich bin da nicht sicher, ob es von Vorteil ist, mehr Zeit zu haben. Es gibt ja das berühmte Bild vom Frosch im Wasser. Wenn Sie einen Frosch in heisses Wasser werfen, springt er sofort raus. Erhöhen Sie langsam die Temperatur, bleibt er stoisch sitzen. Unternehmensverantwortliche finden mit viel Fantasie immer wieder Erklärungen, warum sicht- und spürbare Veränderungen nur vorübergehend sein sollen und eigentlich alles wieder so wird, wie es war. Etwas Druck schadet nicht, weil man sich dann eher auf die Veränderungsreise begibt.

Fast das schlimmste ist es daher, in Zeiten der eigentlich notwendigen Veränderung noch hohe Gewinne zu schreiben. Da hat man schnell schlagende Argumente zur Hand, gar nichts zu verändern. Man schreibt in der Gegenwart Gewinne, die aus der Vergangenheit begründet sind. Das gesamte Umfeld verändert sich aber und man wacht dann in fünf Jahren böse auf. Denn der Gewinn ist eine nachgelagerte Steuerungsgrösse.

In Zeiten des Wandels kann es auch sein, dass Erfahrung nicht immer der beste Ratgeber ist. Denn sie zeichnet einen Weg vor, der eben vielleicht nicht mehr funktioniert. Etwas zynisch könnte man sagen: Die deutsche Autoindustrie hatte gegenüber Tesla einen 100-jährigen Erfahrungsnachteil!

Ist der gemanagte Veränderungsprozess, den Sie hier geschildert haben, nicht nur etwas für grosse Unternehmen?
Es ist auch für einen kleinen Handwerksbetrieb wichtig, wie die Organisation tickt. In kleinen Unternehmen hat man den Vorteil, dass man sich rasch ein gemeinsames Bild machen und die Entwicklung gemeinsam gestalten kann.

Unternehmenskultur ist auch nie nur ein Projekt. Diese Verwechslung gibt es häufiger. Die Entwicklung des Unternehmens hat keinen Zeithorizont und ist nie abgeschlossen. Ich vergleiche die Bearbeitung einer Unternehmenskultur mit dem Job eines Landschaftsgärtners. Er arbeitet kontinuierlich und zu jeder Jahreszeit. Aber er agiert indirekt. Wachsen müssen die Pflanzen selber.

Was sagt uns eigentlich der Umgang mit der Pandemie über Unternehmenskultur aus?
Da lassen sich unterschiedliche Phasen skizzieren. Zunächst mussten wir vor anderthalb Jahren alle ins Home Office. Ich kenne viele Unternehmensverantwortliche, die da sehr skeptisch bis pessimistisch waren, ob das funktioniert. Man hat es aber machen müssen. Dann, als sich ihre schlechten Vorhersagen nicht bewahrheitet hatten, kam die Honeymoon-Phase. Über einige Monate dachten sie: Klasse das funktioniert doch super. Im Herbst letzten Jahres erlebten viele eine schmerzhafte Katerphase. Man hat realisiert, dass Remote-Arbeiten im Dauerzustand nicht funktioniert. Zum Beispiel leidet der Zusammenhalt bzw. die gemeinsame Orientierung. Und auch das Lösen von Konflikten fällt viel schwerer. Der Betrieb lief im eingespielten Modus weiter recht gut. Wirklich wichtige Sachen blieben aber liegen.

Momentan sind wir an einem spannenden Punkt: Wir kommen in Teilen aus dem Home Office zurück und haben gelernt, was Technologie alles kann und was sie (noch) nicht kann. Jetzt können wir unsere Zusammenarbeit neu definieren und die Zukunft bewusst gestalten. Was für eine Möglichkeit!

Die Culture Map
Durch eine Culture Map wird Kultur griffig und konkret. Sie erklärt die sichtbaren Manifestationen und auf welche Grundlagen diese zurückzuführen sind. Wieso wurde die gemeinsam beschlossene Strategie nicht umgesetzt? Welche Überzeugungen leiten den Kundenkontakt? Ist für die Mitarbeiter Schnelligkeit oder Gründlichkeit von höherem Wert? Wie werden Veränderungen wahrgenommen? Wie ist die Einstellung gegenüber der Konkurrenz? Welche Motive veranlassen die Mitarbeiter, mit ganzem Herzen den Erfolg zu suchen und neue Innovationen voranzutreiben? Unternehmen gewinnen mit der Culture Map ein gemeinsames Verständnis und erhalten Antworten auf Fragen statt individueller Mutmassungen. Die Culture Map gibt Menschen eine Sprache und ein Vokabular an die Hand für das, was normalerweise nur vage beschrieben werden kann. Dadurch können Probleme an der Wurzel gepackt werden, statt nur Symptome zu behandeln.

Die sieben Culture-Map-Felder fassen jeweils gewisse Kultureinheiten zusammen. Der Aufbau des Modells orientiert sich an Erkenntnissen der kulturellen Evolution. Von Violett bis Aqua finden die Kulturen mit jeder Stufe immer komplexere Lösungen für ihre Herausforderungen. Gleichzeitig zeigt die Culture Map ein Wechselspiel zwischen gruppenorientierten, stabilisierend wirkenden Werten auf der rechten Seite und individualistischen, dynamisierend wirkenden Werten auf der linken Seite. Dabei sei gesagt: Die Welt der Organisationskulturen ist bunt! Niemals kommt nur eine Farbe in Reinform vor. In jedem Unternehmen, in jeder Abteilung, in jedem Team sind Elemente aller sieben Farben enthalten.

Weitere Informationen:
www.culture.institute