Die Schweiz kann im internationalen Vergleich mit Spitzenwerten aufwarten. Gleichzeitig ist die Angst vor der Fallhöhe, die sich aus dieser Spitzenposition ergibt, gross. Eigentlich sollte es jetzt eine Debatte über die Zukunft dieser Gesellschaft geben. Trotz vielfältiger Kommunikationskanäle ist eine solche Debatte aber nicht in Sicht. Die einzelnen Communities bespiegeln sich nur selbst. Die Stiftung StrategieDialog21 will dieses dröhnende Schweigen aufbrechen.

Ihr zentraler Slogan heisst «Gestalte die Schweiz von morgen». Das klingt nach der Sehnsucht nach einem ­grossen Wurf. Ältere Menschen verbinden damit die flammenden Aufrufe von Grossintellektuellen wie Max Frisch. Die gibt es aber kaum noch. Warum wählen Sie solch einen Slogan?
Es stimmt, es gibt heute kaum mehr die grossen Stimmen, auch nicht von Intellektuellen. Aber genau hier müssen wir ansetzen. Wir leben in der Schweiz in einem Land mit dem im weltweiten Vergleich höchsten Wohlstand. Vor über zehn Jahren schloss ich mein Studium der Wirtschaftspsycho­logie ab und kenne daher das Konzept gut, dass wir in einer solch komfortablen Situation einen möglichen Verlust höher bewerten als einen ebenso möglichen Gewinn. Und wir alle empfinden auf diesem hohen Niveau, auf dem wir leben, einerseits eine immer grössere Angst, tief zu fallen – und andererseits die Angst vor Verlusten. Die Folge: Wir klammern uns an Bewährtem fest, pflegen unsere strukturkonservative Nische und sehnen uns nach Regularien, die diese zementieren. Das ist der falsche Weg, da wir Chancen und Innovationen zunehmend aus den Augen verlieren und dann gegenüber anderen aufstrebenden Gesellschaften wie China kaum eine Chance haben. Daher sollten wir alle überlegen, wie die Schweiz von morgen aussehen könnte und gleichzeitig auch den Mut verspüren, mit anzupacken. Ein Unternehmer weiss, dass wir uns bewegen müssen, und hier wollen wir als Stiftung unseren Teil beitragen.

Da sprechen Sie aber gegen einen gesellschaftlichen Trend an. Angst und Kleingeistigkeit ist weit verbreitet. Mittelschichten haben Abstiegsängste, eine jüngere Generation hat Angst, nicht mehr den Wohlstand der Elterngeneration erreichen zu können. Das führt in fast ganz Europa zu sehr konservativen Reaktions- und Wahlmustern. Lassen Sie mich das nach einem konkreten Beispiel verdeutlichen. Wir haben im Gegensatz zu früher viele tolle Kommunikationskanäle. Die Inhalte werden aber immer flacher, die reine Selbstbespiegelung nimmt zu, und Hass-Mails sind Alltag. Man könnte Kulturpessimist werden. Sie können da sicher widersprechen …
Je mehr Wohlstand und Zugang zu Wissen wir haben, desto mehr wissen wir, was wir nicht wissen. Es gilt daher, Differenzen und Spannungen auszuhalten. Wir leben gleichzeitig in einem weltpolitisch unsicheren Zeitalter, wo wir noch nicht genau ab­sehen können, in welche Richtung es geht. Nun geht es gerade darum, die Ängste nicht über sich hinauswachsen zu lassen, sondern die Chancen zu ergreifen. Da können wir als Land, welches keine Rohstoffe besitzt, nur mit Bildung, Bildung und nochmals Bildung dagegensetzen.

Kommen wir zu den Kommunikations­kanälen. In meinem Hauptgebiet der strategischen Kommunikationsberatung beschäftigt mich diese Herausforderung täglich. Ich meine, dass eine Antwort im Konzept der sozialen Identitäten liegt. Wir leben ja in einer Gesellschaft, die meint, sehr individuell aufgestellt zu sein. Jeder postet individuelle ­Bilder, Videos und Textbausteine in immer ­vielfältigeren Kanälen. Das ist die schöne Vorstellung. Die Praxis sieht etwas anders aus. Wir kommunizierten zwar noch nie so viel wie heute, stellen uns selbst dar, tun dies aber nur noch in dem eingeschränkten Sichtfeld unserer Community. Inspirationen von aussen sind trotz der vielfältigen Möglichkeiten eher selten, teilweise lassen wir sie auch gar nicht mehr zu.

Können Sie uns da ein Beispiel verraten?
Ja, nehmen Sie die Brexit-Debatte in England. Das Pro-Europa-Lager war zwar vermeintlich gut vernetzt und hat eine tolle Kampagne auf die Beine gestellt. Wie sich im Nachhinein zeigt, hat man damit nur das eigene urbane, weltoffene Lager in London erreicht. Man hat sich immer intensiver gegenseitig bespiegelt. Es ist kaum jemand in eine ländliche Region oder den alten Rostgürtel gefahren und hat sich dort in ein Pub gesetzt und die Meinungen angehört um dann in eine Debatte einzusteigen.

Was heisst dies für die Schweiz?
Wir brauchen mehr ehrliche und öffentlich zugängliche Diskussionen sowie Einrichtungen, die eine gesamt-gesellschaftliche Kohäsion wieder ermöglichen. Früher war vielleicht die Armee solch eine Institution, die das Kennenlernen von unterschiedlichsten gesellschaftlichen Gruppen ermöglicht hat. Heute fehlen uns solche Einrichtungen.

Und Sie wollen jetzt mit Strategie­Dialog21 einen organisatorischen Rahmen anbieten, um solche Debatten zu ermöglichen?
Ja, wir wollen dazu beitragen, die geschilderten Verhaltensmuster aufzubrechen. Wir wollen jetzt aber, trotz unseres reno­mmierten Förderbeirats, nicht topdown agieren, sondern Akteure fördern, die von der Basis her Bewegung in die Gesellschaft bringen. In diese Richtung geht auch der Bürger-Preis, den wir zusammen mit dem Swiss Venture Club jährlich verleihen. Das «Wunsch-Schloss» ist ein Ideenwettbewerb, der den Dialog zwischen Politik, Gesellschaft und Wirtschaft auf  eine kreative Art und Weise wieder erlaubt.  Eine renommierte Jury selektioniert im Vorfeld die zehn besten Wünsche. Jeder Bürger und jede Bürgerin darf Ideen einreichen. Das Publikum entscheidet am Veranstaltungsabend, welche Lösung und welcher Preisträger die Chance erhält, bei allen ­Generalsekretären von allen Parteien einen Gesprächstermin zu bekommen. Solche Initiativen braucht es, um die verkrusteten Strukturen aufzubrechen. Es geht auch darum, Emotionen zu wecken. Die Politik braucht wieder mehr positiven Sportsgeist.

Lassen Sie mich da nochmals kritisch nachfragen. Ihr politischer Hintergrund lässt sich mit liberal beschreiben. Nun sehen aber gerade wirtschaftsliberale Vordenker und Politiker über den eigenen Tellerrand kaum hinaus. Ein Beispiel: Man diskutiert das Verhältnis zur EU nur im pragmatischen Rahmen, wie die Bilateralen Verträge zu retten sind und kommt aus der Krisenrhetorik kaum heraus. Man verzettelt sich im Klein-Klein. Ich kenne aktuell kaum eine ­Debatte in der Schweiz, wie man sich das Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU in zehn Jahren vorstellen kann. Ja, die SVP hat da eine klare Positionierung. Ich kenne aber niemanden in den liberalen Welten der Schweiz, der sich hier grundsätzlich aus dem Fenster lehnt und eine Debatte anstossen will.
Da sprechen Sie mir aus der Seele. Wir sollten wieder in Visionen denken, aus denen sich dann auch Strategien ableiten lassen. Wir sollten auch in diesem Punkt sehr viel kreativer und mutiger sein. Ich greife ein weiteres Beispiel, das der Digitalisierung, auf. Der Bundesrat hat im Frühsommer seine Digitale Strategie präsentiert. Schauen Sie sich dieses Papier mal an. Es ist eine ­Abhandlung, bei der keine Botschaft oder Vision für die Schweiz zu erkennen ist. ­Damit können Sie keine gesellschaftliche Debatte anstossen, die aufklärt und den Fokus auf die Chancen in der Digitalisierung richtet. Diese ist aber gerade in diesem Bereich dringend notwendig; Stichwort Verbesserung der Rahmenbedingungen für Fin-Tech-Unternehmen in der Schweiz.

Ein zentrales Stichwort von Ihnen ­betrifft die fehlenden Visionen. Ich bin überrascht, von einer Vertreterin des liberalen Flügels der politischen Welt in der Schweiz solch ein Wort mit der Gewichtung zu hören. Visionen verbindet man doch eher mit der linken Politik. Ein früherer Bundeskanzler aus Deutschland hat mal gesagt, wer ­Politik und Visionen zusammenbringe, solle doch bitte zum Arzt gehen.
Wir befinden uns heute in einer anderen ­Situation, und es gibt auch andere Generationen, die jetzt Verantwortung übernehmen. Helmut Schmidt hat das seinen linken Kritikern in seiner Partei in den Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts vorgeworfen. Da mag dies seine Berechtigung gehabt haben. Heute sind wir in einer historisch völlig ­anderen Situation, und das wiederhole ich gerne, wo wir wieder Visionen brauchen. Visionen verstehe ich nicht als nebulöse Ideen, wo keine Verantwortlichkeiten ersichtlich sind. Eine Vision ist für mich eine Art Masterplan: eine Option, grossräumig zu denken. Und gerade das brauchen wir in Zeiten der Unsicherheiten und vielfältigsten Entwicklungen. Die Globalisierung von immer mehr Bereichen unsers Alltags braucht kontroverse Debatten und eine neu zu ­definierende Verantwortlichkeit.

Da müssen wir aber auch einiges an den Universitäten umkrempeln. Heutige junge Generation lernen in Bachelor-Studiengängen nicht gerade das Reflektieren von eigenen Positionen. Haben wir nicht zu viele junge Fach­idioten auf dem Markt?
Den Begriff Fachidioten finde ich zu hart. Aber Sie haben recht, es hat eine Verengung gegeben. Ich selbst hatte im Lizenziatsstudium die Möglichkeit, nebenbei ­Arbeitserfahrung zu sammeln, und fand es bereichernd, mich auf diese unterschiedlichen Welten einzulassen. Heute rennen viele Studenten nur noch Punkten hinterher, um ihre universitären Lernziele möglichst rasch zu erreichen. Man fragt sich kaum mehr, was mich selbst antreibt und warum ich dies mache. Es braucht meiner Meinung nach wieder mehr Neugier auf andere Gesellschaften und Kulturen, von denen wir lernen können. Und wie wenige das Erasmusprogramm nutzen, ist eine Tatsache und traurige Angelegenheit.

Sie pflegen eine Partnerschaft mit Jungunternehmen. Sicher hören Sie oft den Einwand: Für gesellschaftliche Visionen habe ich keine Zeit, ich muss mich um mein Kerngeschäft kümmern. Was antworten Sie auf solche Einwände?
Ich kenne solche Argumente und begegne ihnen häufig. Ich appelliere dann an die Verantwortung des Staatsbürgers in unserer direkten Demokratie. Es gibt auch bei knappen Zeitbudgets immer Möglichkeiten, sich gesellschaftlich einzubringen. Von einem ersten Nein darf ich mich selbst zudem nicht abschrecken lassen. Und vielleicht mit etwas Hartnäckigkeit aufzeigen, dass es sich lohnt, sich zu engagieren. Es braucht sicher auch persönliche und praktische Vorbilder wie das von Hannes Gassert, der bei uns im StrategieDialog21 dabei ist. Und ich stelle fest, dass es auch immer mehr Unternehmer und Unternehmerinnen gibt, die öffentlich Stellung beziehen möchten. Vielleicht liegt es auch an uns, ihnen die richtigen Instrumente und das Umfeld zu bieten, dass sie sich zu äussern bereit sind. Und da sind ­gerade vielleicht auch die Medien wieder gefragt, ebenfalls ihre gesellschaftsverantwortliche Rolle verstärkt wahrzunehmen und unterschiedliche Stimmen zu akzeptieren und nicht vorneweg zu kategorisieren.

StrategieDialog21
Die Stiftung StrategieDialog21 (SD21) wurde im Jahr 2013 vom Berner Unternehmer Jobst Wagner initiiert und setzt sich parteiübergreifend für eine sachliche Ausein­andersetzung mit der Zukunft der Schweiz ein. Die Diskussionsplattform engagiert sich insbesondere für unternehmerische Freiheit, liberale Werte und eine offene Volkswirtschaft. So bietet die Stiftung mutigen und unternehmerisch denkenden Bürgerinnen und Bürgern ein Forum, um die öffentliche Debatte mitzugestalten, sich miteinander auszutauschen und sich für gemeinsame Anliegen einzusetzen.

Die Gefässe hierfür sind öffentliche und exklusive Veranstaltungen, der Ideen­Wettbewerb «Wunsch-Schloss» und Studien mit Fokus auf Regulierung.

Am 21. September gestaltet der SD21 in Bern einen Event über die Bedeutung und die Notwendigkeiten unternehmerischen Denkens und Handelns für die Schweiz und wie viele staatliche Vorgaben in einer Wohlstandsgesellschaft nötig sind bzw. gefordert werden.

An der Podiumsdiskussion teilnehmen werden namhafte Persönlichkeiten: Nick Hayek (CEO Swatch Group), Urs Häusler (Präsident Swiss Start Up Association & CEO DealMarket), Vania Alleva (Präsidentin Unia) und Boris Zürcher (Leiter Direktion für Arbeit SECO). Dies verspricht eine spannende Diskussion zwischen Familien­unternehmer, Jungunternehmer, Gewerkschaft und Verwaltung zu werden.

Weitere Informationen:
www.strategiedialog21.ch