Die erste Säule funktioniert nach dem Giesskannenprinzip.

Die Frage, wie man älteren Menschen einen angemessenen Ruhestand und ein geregeltes Einkommen gewährleistet, steht seit dem 20. Jahrhundert immer wieder zur Debatte. In der Schweiz entstanden so die staatliche und private Vorsorge, die heute zusammen mit der individuellen Vorsorge das Drei-Säulen-System bilden. Wir blicken zurück auf die Entstehungsgeschichte.

Wir werden immer älter. Vor dieser Herausforderung stand die Schweizer Gesellschaft bereits Ende des 19. Jahrhunderts, als auch zum ersten Mal das Thema einer Altersrente aufkam. Viele arbeiteten damals fast bis an ihr Lebensende, weil sie sich ansonsten ihren Lebensunterhalt nicht hätten finanzieren können. Hilfe bekamen sie nur durch die Fürsorge oder ihre Familien. Auf dem Land konnte das relativ gut funktionieren, beispielsweise auf dem Hof einer Bauersfamilie. Aber in den Städten mit den ohnehin knappen Wohnverhältnissen sah das schon ganz anders aus. Vor diesem Problem stehen wir heute nicht mehr – wir haben ein geregeltes Einkommen für den Ruhestand. Trotzdem hat die Vorsorge weiterhin mit der demografischen Alterung zu kämpfen.

Aktueller Rahmen
In den letzten 70 Jahren ist die Lebenserwartung der Männer um 15.1 Jahre gestiegen, jene der Frauen um 14.4 Jahre. Das Rentenalter für Männer ist jedoch mit 65 Jahren gleich geblieben, das der Frauen ist sogar gesunken. Es gibt immer mehr alte Menschen als junge und die Zahl der Rentnerinnen und Rentner steigt. Im Jahr 2017 bezogen etwa 2.3 Millionen Menschen eine Rente. Das sind doppelt so viele wie noch im Jahr 1990 mit 1.1 Millionen. Die Renten der Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) finanzieren sich aus den Beiträgen (Lohnabzügen) der Arbeitgeber und Arbeitnehmer und gehen ohne aufwändige Verwaltung an die heutigen Rentnerinnen und Rentner. Das macht die AHV kostengünstig, effizient und sicher. Aber eben auch anfällig für Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur.

Besonders in den ersten Jahrzehnten waren die Einnahmen der AHV höher als die Ausgaben. Ausnahmen bildeten in den letzten Jahren beispielsweise die New-EconomyKrise im Jahr 2002 und die Finanzkrise 2008. Seit dem Jahr 2000 stehen Sparmassnahmen und die Sicherstellung der Finanzierung im Fokus. Heute finanziert sich die AHV nicht mehr ausschliesslich aus den Lohnabzügen, sondern auch über Bundesbeiträge aus Einnahmen der Mehrwertsteuer und der Alkohol-, Tabak- und Spielbankenabgaben. Im Gegensatz dazu beruhen die Pensionskassen der zweiten Säule auf dem Kapitalisierungsverfahren, also auf angespartem Vorsorgekapital. Das heisst, sie finanzieren sich durch angesparte Reserven, die auf dem Kapitalmarkt angelegt werden und Zinserträge generieren. Sie sind also stark vom Finanzmarkt abhängig.

Zur Sicherung der Vorsorge stehen deswegen immer wieder Revisionen – oder wie zuletzt das Reformprojekt Altersvorsorge 2020 – auf der politischen Agenda, die das Stimmvolk jedoch ablehnten. Am 19. Mai 2019 steht die Steuerreform und AHV- Finanzierung (STAF) zur Abstimmung. Wir blicken in die Vergangenheit und beleuchten die Entstehungsgeschichte der AHV und der beruflichen Vorsorge.

Beginn der Altersvorsorge
Während fast 60 Jahren schmiedeten Politiker immer wieder Pläne für eine Alters- und Hinterlassenenversicherung – und verwarfen sie denn auch wieder. In Deutschland führte Reichskanzler Otto von Bismarck eine öffentlich-rechtliche Altersversicherung im Jahr 1889 ein. In der Schweiz stand ab 1890 die Frage um die Altersrente auf der politischen Agenda. Es sollte aber noch bis 1947 dauern, bis es mit einer AHV so weit war. Aber der Reihe nach: Was die staatliche Altersversicherung betrifft, verliefen die ersten Jahre der Debatte zäh und langsam. Die soziale Sicherheit konzentrierte sich zunächst auf die Unfall- und Krankenversicherung, und während des Ersten Weltkriegs kam es ganz zu einem Unterbruch der sozialpolitischen Verhandlungen.

Anders bei der privaten Vorsorge: Bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden die ersten Pensionskassen. Sie waren anfangs jedoch einer kleinen Elite vorbehalten. Zunächst kamen Lehrer, Polizisten und Beamte in den Genuss der Vorsorge. Zwischen 1888 und 1914 gründeten viele Gemeinden und Verwaltungen Pensionskassen für ihre Angestellten – die grösste Pensionskasse versicherte damals die Arbeiter der Schweizerischen Bundesbahnen (SBB). Während und nach dem Ersten Weltkrieg erlebten die Pensionskassen dann einen regelrechten ersten Aufschwung. Hauptsächlich Arbeitgeber und Lebensversicherer kontrollierten und führten die Pensionskassen – sie erhielten dadurch Steuererlassungen und nutzten die Pensionskassen, um ihr Personal an sich zu binden. Zu dieser Zeit entstanden Hunderte Pensionskassen. Eine Entwicklung, die bis ins späte 20. Jahrhundert andauerte.

Eine staatliche Vorsorge entsteht
Wie gesagt, waren durch private Vorsorgeeinrichtungen nur einige wenige Arbeitende versichert. Mit dem landesweiten Generalstreik von 1918 kam das Thema einer staatlichen Altersrente deswegen wieder aus der verstaubten Truhe. Es waren die steigende Armut und die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, welche die Arbeiterschaft zum Streiken bewegten. Unter anderem forderten sie eine Alters- und Invalidenversicherung. Eine Forderung, auf die der Schweizer Staat jedoch nicht sofort einging. In der zweiten Hälfte der 1920erJahre erarbeitete der freisinnige Bundesrat Edmund Schulthess zwar eine Vorlage für eine Alters- und Hinterlassenenversicherung, die auch durch den eidgenössischen Rat ging. Jedoch scheiterte der sogenannte Lex Schulthess am 7. Dezember 1931 an der Urne.

Diese zwei unterschiedlichen Entwicklungen – das Scheitern der Sozialversicherung auf der einen und die Verbreitung der privaten Vorsorge auf der anderen Seite – waren massgebend für unsere heutige gemischte Altersvorsorge. Das Jahr 1947 dürfte vielen noch durch das «Jahrhundertereignis» der Schweizer Geschichte im Gedächtnis sein: Die Schweizer Männer (das Frauenstimmrecht kam erst 1971) sagten am 6. Juni 1947 Ja zur AHV – mit 80 Prozent bei einer Stimmbeteiligung von 79 Prozent. Der erneute Vorstoss kam vom freisinnigen Bundesrat Walther Stämpfli, der den Gesetzesentwurf durch das Bundesamt für Sozialversicherungen erarbeiten liess. Dass die Volksabstimmung zur AHV so erfolgreich war, hatte zwei Hauptgründe: Niemand wollte nach dem Zweiten Weltkrieg einen ähnlichen Landesstreik wie nach dem Ersten Weltkrieg. Ausserdem stellte der Gesetzesentwurf zur AHV die privaten Pensionskassen nicht infrage.

Anfangs belief sich die Minimalrente gerade mal auf 40 Franken. Auch das war ein Grund, warum die privaten Vorsorgeeinrichtungen einen weiteren Aufschwung erlebten. Für die Sozialpolitik der Arbeitgeber waren sie weiterhin wichtig. Die Abgrenzung und Aufgabenteilung zwischen AHV und Pensionskassen war immer ein grosses Anliegen – aber auch eine Herausforderung. Bei der AHV ging es vor allem um das Erhöhen der Grundrente. Zwischen 1951 und 1975 wurde die AHV acht Mal revidiert. Die Renten stiegen von zehn Prozent eines Durchschnittslohns im Jahr 1948 auf 35 Prozent im Jahr 1975. Der Ausbau der AHV ist vielen noch unter dem Begriff «Tschudi-Tempo» bekannt, getauft nach dem SP-Bundesrat HansPeter Tschudi, der in seiner Amtszeit von 1960 bis 1973 das Innendepartment in schnellem Tempo modernisierte.

Das Drei-Säulen-System
Zu dieser Zeit kam auch die Debatte zur Drei-Säulen-Doktrin auf. In den 1960erJahren zeigte sich vermehrt die Verflechtung zwischen AHV und Pensionskassen. Das stellte die Aufgabenteilung der beiden Bereiche zusehends infrage. Tschudi griff das Drei-Säulen-Modell auf: die AHV als erste Säule, die Pensionskassen als zweite Säule und die individuelle Vorsorge als dritte Säule. In seiner am 3. Dezember 1972 vom Volk angenommenen Vorlage kombinierte er die Entwicklung der zweiten Säule mit einer gleichzeitigen Erhöhung der AHV. Seit 1980 werden die Renten automatisch an das allgemeine Lohnwachstum und die Teuerung angepasst. Auch das ist ein Verdienst Tschudis.

Die Pensionskassen hingegen genossen weniger Gesetzesvorlagen und konnten sich so recht frei entwickeln. Deswegen gab es bis zur Einführung des Bundesgesetzes über die berufliche Vorsorge (BVG) im Jahr 1985 unzählige Arten von Pensionskassen: Autonome Kassen versicherten die Arbeitnehmenden eines einzelnen Arbeitgebers, Lebensversicherer die Belegschaft mehrerer Arbeitgeber, zudem gab es berufsgebundene oder gewerkschaftsgebundene Kassen und Kassen für Arbeitgeber eines bestimmten Wirtschaftssektors. Da diese sich eher an einen begrenzten Kreis richteten, gab es zudem verschiedenste Wohlfahrtseinrichtungen und Fürsorgeeinrichtungen. Das erklärt auch die hohe Anzahl an Pensionskassen, die im Laufe des 20. Jahrhunderts entstanden. Waren es im Jahr 1903 noch um die 100 Kassen, stieg die Zahl 1941 auf über 4 000 und erreichte 1978 einen Höhepunkt mit etwa 17’000 verschiedenen Pensionskassen. Erst mit dem BVG ging die Zahl wieder zurück, sodass sich jetzt rund 2 191 Pensionskassen den Markt teilen.

Es sind die unterschiedlichen Pfeiler in der Altersvorsorge, die das Schweizer System charakterisieren. Die berufliche Vorsorge finanziert sich durch die Bildung von Reserven und den Finanzmarkt. Die jährlich ausbezahlte Rente errechnet sich aus dem Umwandlungssatz. Die staatliche Altersversicherung basiert hingegen auf dem Umlageverfahren und dem Ausgleichssystem zur Abwicklung der Beitrags- und Rentenzahlungen. Es beruht auf einer gewissen sozialen Umverteilung: Die Lohnabzüge werden auf das gesamte Einkommen bezahlt, die Höhe der Rente ist jedoch nach oben beschränkt. Wer also viel verdient, bezahlt hohe AHV-Beiträge, erhält im Rentenalter aber nicht mehr als die Maximalrente. Konkret heisst das: Wer jedes Jahr seine AHV-Beiträge zahlt, bekommt bei der Pensionierung monatlich eine Rente zwischen 1 175 Franken (Minimum) und 2 350 Franken (Maximum). Dieser Umverteilungseffekt wird dann wieder durch das Drei-Säulen- System wettgemacht.

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