von Georg Lutz

Nicht nur am ersten Morgen nach der Brexit-Entscheidung sind viele mediale Kommentatoren und ökonomische Entscheidungsträger in der EU mit Kopfweh aufgewacht. Wie können die Wählerin und der Wähler solch eine irrationale Entscheidung treffen? Warum unterwirft man sich taktierenden Populisten? Wirtschaftlich gibt es zunächst auf jeden Fall Reibungsverluste, und England droht ohne Schottland und Irland in den nebligen Atlantik hinauszutreiben.

Die Antwort hat viel mit der Verfasstheit der EU zu tun. Sie kommt seit Jahren nicht aus dem Krisenmodus heraus. Die rhetorische Gebetsmühle der «Alternativlosigkeit» der EU-Politik stösst nicht nur den Briten unangenehm auf. Die Vorgehensweise wird von vielen europäischen Staatsbürgern als übermächtiger Technokraten-Club wahrgenommen. Das ist von der Wahrnehmung her an vielen Punkten falsch, da beispielsweise nationale Regierungschefs dafür sorgen, dass der EU-Kommissionspräsident nie so mächtig wird, um sie herausfordern zu können. Allerdings ist der Einigungsprozess schon vor Jahren hängen geblieben. Nach dem Zweiten Weltkrieg löste das Projekt eines gemeinsamen Europas politische Emotionen aus. Die Rede von Winston Churchill in Zürich 1946 von der Vision der Vereinigten Staaten von Europa ist dafür ein spannendes Beispiel. Wo sind diese Emotionen heute? Einer der letzten grossen Europäer, Jacques Delors, hat es auf den Punkt gebracht: «Niemand verliebt sich in einen Binnenmarkt.» Daher stossen die Erfolgsgeschichten in Europa wie auch die Freizügigkeit innerhalb der Union auf so wenig Resonanz. Es gibt eine rudimentäre Staatenunion, die sich nicht zu einer Bürgerunion entwickelt hat. Es gibt keine konservative, liberale oder sozialdemokratische Geschichte darüber, wie die EU in zehn Jahren aussehen soll. Es gibt zudem heute keine Persönlichkeiten, die dies transportieren könnten. Auch der Hinweis auf das Friedensprojekt EU ist heute zu einem hilflosen Reflex verkommen. Europa braucht neuen Schwung, um seine Identität zu erneuern. Er ist aber nicht in Sicht.

Diese emotionale Lücke haben Nationalisten in ganz Europa erkannt und füllen sie mit ihren Märchenstunden. Gerne lebt man in der globalen Welt und will davon profitieren. Wenn es aber um die wirklichen Herausforderungen geht, baut man lieber wieder Zäune auf. Weltoffener Handel und zunehmender Nationalismus sind kein Widerspruch. Wer auf eine solche Karte setzt, sollte sich die historische Situation in Europa am Vorabend des Ersten Weltkriegs anschauen. Wie heute ermöglichten neue Technologien schnelle Transportwege und bessere Kommunikationsverbindungen. Neue Branchen eröffneten viele Businessmöglichkeiten. Zeitgleich kam ideologisch ein aggressiver Nationalismus an die Macht. Die verantwortlichen Akteure taumelten schlafwandlerisch in den Ersten Weltkrieg.

Die Angst vor Globalisierung, der Niedergang klassischer Parteien und die Migration, die uns scheinbar den Wohlstand nimmt, befeuern Marie Le Pen, Frauke Petry und Geert Wilders an. Die Unzufriedenheit, die sie thematisieren und mit falschen Antworten versehen, hat einen wahren Kern. Europa wurde von seinen Eliten an die Wand gefahren, da keine Konzepte für die Zukunft zu erkennen sind und diskutiert werden. Nehmen wir die Politik der Europäischen Zentralbank als Beispiel. Mit einer noch schnelleren Rotation der Notenpressen kauft man sich Zeit, löst aber keine strukturellen Probleme. Ja, der Freihandel kennt viele Gewinner in der Finanzbranche oder in den Schwellenländern. Aber die Globalisierung kennt auch Verlierer, viele davon in den Rostgürteln der alten Industriestaaten. Gerade hier in England haben die Menschen für den Brexit gestimmt. Viele Businessakteure, Wahlforscher und sozialwissenschaftliche Experten haben nur den Tunnelblick auf London gehabt und lagen damit falsch. Der Austritt Grossbritanniens wird allen Anti-EU-Parteien Auftrieb geben, ob links oder rechts, ob Nord oder Süd. Der Rückfall in nationale Reaktionsmuster ist aber gefährlich und wird scheitern. Umgekehrt müssen EU-Befürworter aus ihrem Schneckenhaus herauskommen und sich den Lebensrealitäten stellen und neue weltoffene Konzepte präsentieren.