Chinas «Mobile First»-Revolution auf der Überholspur

China baut seine Stellung auf den Weltmärkten konsequent aus. Der folgende Beitrag erläutert, warum Chinas grösste Technologiekonzerne die amerikanischen FAANGs bald überholen werden.

Mit Revolutionen verschiedenster Art – sei es in Kultur, Politik oder Wirtschaft – hat China so seine Erfahrung. Doch die bereitwillige Entscheidung für eine «Mobile First»-Strategie 1 im Technologiesektor, die das bevölkerungsreichste Land der Erde auf einen globalen Spitzenplatz im digitalen Zeitalter katapultiert

hat, ist wohl die bislang weitreichendste Umwälzung. Die chinesische Suchmaschinen- und E-Commerce-Landschaft sowie das Angebot an digitalen Inhalten werden von den drei Unternehmen Baidu, Alibaba Group Holding und Tencent Holdings – zusammen «BATs» genannt – beherrscht. Im Mai 2017 rückten Alibaba und Tencent in einen Kreis von elf globalen «Titanen» auf,

Unternehmen mit einem Börsenwert von über USD 300 Milliarden. Dort belegen sie die Plätze sieben und zehn. Die ersten fünf auf der Liste sind Apple, Google-Mutter Alphabet, Microsoft, Amazon und Facebook (in der Reihenfolge der Grösse).

Glaubt man den Signalen vom Optionsmarkt, könnten die BATs bald zu den FAANGs (Facebook, Apple, Amazon, Netflix und Google) aufschliessen. Optionen vermitteln zuverlässig eine Vorstellung davon, wie die Börse die Preisentwicklung eines Vermögenswerts beurteilt, ob er also eher steigen oder eher fallen wird. Die Nutzung von Optionen, um Informationen über künftige Entwicklungen zu gewinnen, hat Ähnlichkeit mit der Gewinnung von Daten durch Crowdsourcing2. Die Marktpreise geben Auskunft darüber, wie sich

Risiken im Zeitablauf ändern.

Alltägliche Begleiter wie WeChat
Nach Angaben des China Internet Network Information Center gehen 723,6 Millionen Chinesen (von einer Gesamtbevölkerung von etwa 1,36 Milliarden) über das Handy ins Internet. Das sind doppelt so viele Menschen, wie die USA Einwohner haben, und rund ein Drittel mehr als die Bevölkerung der Europäischen Union (EU). Wie die chinesische Statistikbehörde mitteilte, erreichten die Online-Umsätze 2016 ein Volumen von USD 750 Milliarden – mehr als in den USA und Grossbritannien zusammen. Bis 2022 wird ein jährlicher Anstieg um 20 Prozent erwartet, doppelt so viel wie in Grossbritannien und den USA. Davon sollen im Jahr 2020 auf den mobilen Bereich 74 Prozent entfallen, verglichen mit 46 Prozent in den USA.

Baidu hat in China mit Abstand den grössten Marktanteil im Suchmaschinenbereich, Alibabas Online- Auktionsportale Taobao und TMall haben die Vorherrschaft im Onlineshopping mit 529 Millionen aktiven

mobilen Nutzern im Monat, und ein Drittel der 963 Millionen Anwender von WeChat 3 nutzt die App täglich vier Stunden oder länger. Über WeChat können Ärzte nach Ort, Fachrichtung und Preis gesucht, Termine vereinbart, Behandlungskosten beglichen und verschriebene Medikamente bestellt werden. Im Restaurant rufen WeChat-Nutzer die Speisekarte auf ihrem Handy auf, um von dort aus auch zu bestellen und zu bezahlen. Nach dem Essen können über die App Kinoplätze gebucht und ein Taxi zur Vorstellung geordert werden. Die Abrechnung mit Freunden erfolgt bequem über das Mobile-Payment-System WeChat Pay. Im Gegenzug erhält Tencent eine Fülle an Daten.

Da fast alle Chinesen Alipay (das Onlinebezahlsystem von Alibaba) oder WePay nutzen – laut Zahlen der chinesischen Zentralbank entfielen auf die beiden Systeme im ersten Quartal 54 Prozent beziehungsweise 40 Prozent

aller Online-Zahlungen –, ist es mittlerweile schwierig, selbst einfache Dinge wie ein Nudelgericht bei einem Strassenverkäufer in bar zu bezahlen. Das ist ein Beispiel dafür, wie die Verbraucher eine bestimmte Technologie zuweilen einfach überspringen. Beim direkten Übergang von der Barzahlung zu mobilen

Bezahlsystemen bleibt die Kreditkarte auf der Strecke.

Grosse Sprünge
Die Omnipräsenz ihrer Apps gibt Alibaba und Tencent die Möglichkeit, die gesammelten Daten für neue Vorhaben zu nutzen, etwa für Angebote im Finanzdienstleistungsbereich. Innerhalb von vier Jahren ist ein Fonds von Alibaba mit der Bezeichnung Yu’e Bao laut Fitch Ratings zum weltweit grössten Geldmarktfonds aufgestiegen. Sein Anlagevermögen beträgt inzwischen USD 210 Milliarden, das sind 28 Prozent des Marktvolumens in China. Die Verwaltungsgesellschaft von Yu’e Bao, Tianhong Asset Management, ist der erste chinesische Geldverwalter, dessen verwaltetes Vermögen die Marke von einer Billion Yuan (USD 145 Milliarden) überschritten hat. Der Erfolg des Yu’e Bao-Fonds, der sich mehrheitlich im Besitz der Alibaba-Tochter Ant Financial befindet, war für Tencent der Anstoss, mit einer ähnlichen Offerte an den Markt zu gehen. Unterdessen ist Tianhong bemüht, seine im vergangenen Jahr eingeführten börsengehandelten Fonds um Anleihe- und Aktienprodukte zu ergänzen. Diese Form der Innovation scheint zu funktionieren. Am 17. August meldete Alibaba für das erste Quartal

seines Geschäftsjahres einen Gewinnsprung von 56 Prozent gegenüber den drei Monaten bis Juni 2016. Einen Tag zuvor hatte Tencent für das zweite Quartal einen ähnlich rasanten Ertragszuwachs von 59 Prozent gegenüber dem Vorjahr bekannt gegeben. Der Kurs der Alibaba-Aktie hat sich seit dem 22. Dezember verdoppelt, während die Tencent-Aktie einen Tag weniger benötigte, um ein Plus von 80 Prozent zu erzielen. Die Aktie von Baidu hat seit dem 16. Juni um 30 Prozent zugelegt.

Hohe und niedrige Hürden
Die Optionspreise signalisieren zwar für Amazon, Facebook, Apple und Alphabet noch reichlich Luft nach oben, doch müssen die FAANGs erhebliche Beharrungskräfte im Finanzdienstleistungssektor, im klassischen Einzelhandel und bei den Einstellungen der Verbraucher überwinden. Für die BATs sind die

Hürden niedriger, und der Optionsmarkt scheint das Potenzial dieser Titel deshalb extrem optimistisch zu beurteilen.

Auch mögliche kartellrechtliche Massnahmen stellen für die FAANGs Risiken dar. Das gilt besonders in der EU, wo Google im Juni eine Geldstrafe von EUR 2,4 Milliarden zahlen musste und mit weiteren Ermittlungen konfrontiert ist. In den USA denkt Präsident Trump über Änderungen bei Visa- und Steuervorschriften nach, die negative Auswirkungen auf Silicon-Valley-Firmen haben könnten – diese werden in konservativen Kreisen als zu mächtig und zu liberal angesehen. China hat die Vorschriften für Internetfirmen dagegen gelockert, um deren Innovationsfähigkeit zu stärken.

Der Optionsmarkt vertraut darauf, dass es den chinesischen Unternehmen gelingen wird, das Cloud Computing weiter voranzutreiben und ihre Werbeeinnahmen zu steigern. Zugleich wird davon ausgegangen, dass diese Firmen in den Bereichen E-Commerce, digitale Inhalte und Spiele (ein

Beispiel ist das äusserst beliebte Handy-Spiel «Ruhm der Könige» von Tencent) ihre dominante Stellung behaupten werden. Da sich die Nutzer mobiler Anwendungen in den grössten Städten des Landes konzentrieren, bieten sich den BATs Expansionsmöglichkeiten in kleineren Städten und ländlichen Gebieten. Dort ist es für Einzelhandels-, Finanz-, Gesundheitsunternehmen und Bildungseinrichtungen oft unwirtschaftlich, eine Präsenz zu unterhalten.

In puncto Wachstum im mobilen E-Commerce signalisieren die Optionspreise, dass die BATs die FAANGs überrunden.

Anmerkungen

  • Mobile-First-Ansatz = Konzeption des Webdesigns mit mobilen Geräten (mit kleinerem Bildschirm) als Ausgangsbasis, bevor an Desktop-PCs oder andere grössere Geräte gedacht wird.
  • Crowdsourcing = Inanspruchnahme der Dienste einer grossen Zahl von Personen gegen Entgelt oder unentgeltlich, typischerweise über das Internet.
  • WeChat = von Tencent entwickelte mobile App für Instant-Messaging, mobiles Bezahlen und diverse andere Funktionen.

Ashwin Alankar ist Global Head of Asset Allocation and Risk Management bei Janus Henderson.

www.janushenderson.com