Ein systematisches Auswahl- und Bewertungsverfahren implementieren.

Agilität ist in aller Munde. Während sich die Idee in der Produktentwicklung zunehmend etabliert, sind Ansätze der agilen Marktentwicklung insbesondere bei Start-ups bisher wenig verbreitet. Dies ist aber zentral, da die neuen Produkte Sichtbarkeit benötigen. Dabei bestehen für neugegründete Firmen gute Möglichkeiten, schnelles Kundenwachstum zu forcieren, wie Studien des Instituts für Management & Innovation (IMI) der Fernfachhochschule Schweiz (FFHS) zeigen¹.

Laut Bundesamt für Statistik wurden in der Schweiz im Jahr 2016 insgesamt 39’125 Unternehmen neu gegründet. Allerdings scheitert jedes zweite Unternehmen innerhalb der ersten fünf Jahre. Die Gründe dafür sind vielfältig. Dazu gehören der mangelnde Produkt-Markt-Fit, schlechtes Timing bei der Investition in Vertrieb und Marketing, mangelnde Gründerfähigkeiten sowie Probleme bei der Beschaffung von Kapital und Liquidität. Ein weiterer zentraler Grund für das Scheitern ist, dass junge Unternehmen das Marketing und den Vertrieb unterschätzen. Gründerinnen und Gründer besitzen in der Regel exzellentes technologisches Wissen. Sie haben jedoch wenig Verständnis für die Wahl und Umsetzung der richtigen Vertriebs- und Marketingkanäle. «Fast jedes gescheiterte Unternehmen hat ein Produkt. Was gescheiterte Unternehmen nicht haben, sind genügend Kunden», so Gabriel Weinberg und Justin Mares in ihrem Buch «Traction»2.

Der Marktentwicklungsansatz
Wie kann nun ein Unternehmen schnelles Kundenwachstum generieren? Ein geeignetes Vorgehen ist die Anwendung von Traction. Bei Traction handelt es sich um einen agilen Marktentwicklungsansatz. Durch die Kombination verschiedener Methoden ermöglicht er, einen Markt in einer wesentlich kürzeren Zeit und mit einer höheren Kundenwachstumsrate zu entwickeln, als es mit herkömmlichen Vermarktungsansätzen der Fall ist. Die drei Hauptmerkmale des Ansatzes sind:

Die Marktentwicklung erfolgt zeitgleich mit der Produkt- beziehungsweise Dienstleistungsentwicklung und umfasst den gleichen Zeitaufwand. Diese Parallelität von Produkt- und Marktentwicklung wird als 50 / 50-Regel bezeichnet.

In einem systematischen Auswahl- und Bewertungsverfahren werden aus 19 möglichen Marketingkanälen die drei erfolgversprechendsten identifiziert. Diese werden in Tests auf ihre Wirksamkeit hinsichtlich der Kundengewinnung eruiert. Aufgrund der Testergebnisse kann ein Start-up den optimalen Vermarktungskanal wählen.

Es erfolgt eine kontinuierliche Quantifizierung des Wachstumseffektes. Zeigt der gewählte Vermarktungskanal Anzeichen einer Sättigung, kann ein Unternehmen mit einer Veränderung des optimalen Marketingkanals darauf reagieren. Der für eine neue Wachstumsphase adäquate Marketingkanal wird wie oben beschrieben wiederum durch eine Auswahl der drei erfolgversprechendsten Kanäle und anschliessenden Tests gefunden.

Potenzial wenig genutzt
Das Institut für Management & Innovation (IMI) der FFHS hat mehrere Studien über die Anwendung des Tractionansatzes in Schweizer Unternehmen durchgeführt. Die Ergebnisse zeigen, dass Traction weder bei Schweizer Start-ups noch bei KMU angewandt wird. Nicht einmal einzelne Teilaspekte des Ansatzes finden bei den Firmen in der Praxis Anwendung. Dies gilt sogar für Start-ups und KMU, die in Traction-affinen Branchen tätig sind, und stark mit Digitalisierung zu tun haben. Die Untersuchungsergebnisse verdeutlichen, dass nicht einmal in den Firmen, für die das Tractionkonzept ursprünglich entwickelt und erfolgreich angewandt wurde, der Ansatz bekannt ist und als Instrument Beachtung findet. «Mehr als 50 Prozent der untersuchten Firmen ziehen entweder keinen oder maximal ein bis fünf der 19 Marketingkanäle in Betracht. Der allergrösste Teil der untersuchten Firmen hat lediglich Kenntnis von einem sehr beschränkten Teil der möglichen Marke-tingkanäle», erläutert Bora Altuncevahir, Leiter einer der Studien. Darüber hinaus findet häufig auch dann kein Wechsel der Marketingkanäle statt, wenn mit dem bisherigen Kanal eine Sättigung des Kundenwachstums erreicht ist.

Kundenzielgruppe genau verstehen
Sind fehlende Kenntnisse und Erfahrungen mit dem Marktentwicklungsansatz Traction der zentrale Grund für die Nichtanwendung im Schweizer Kontext? Oder gibt υ es andere Gründe dafür, dass das Potenzial des Ansatzes nicht weitreichender genutzt wird? Das IMI ist diesen Fragen nachgegangen. Mit einer Pilotimplementierung des Ansatzes beim Start-up Unternehmen Lost-Tag wurden Hindernisse und Herausforderungen bei der Umsetzung von Traction untersucht. Dabei stellte sich heraus, dass es eine entscheidende Voraussetzung für die erfolgreiche Umsetzung des Ansatzes gibt: nämlich die Kundenzielgruppe genau festzulegen und den durch ein Produkt oder eine Dienstleistung generierten Mehrwert für diese Gruppe im Detail zu verstehen. Dies wiederum bedingt, dass sich die Gründerinnen und Gründer über die strategische Stossrichtung ihres Unternehmens und die Positionierung in den entsprechenden Märkten im Klaren sein sollten. Jedoch sind eine hinreichende Auseinandersetzung mit zentralen strategischen Fragen sowie das frühzeitige Verständnis der Bedürfnisse der relevanten Kundensegmente bei vielen Unternehmen nicht ausreichend vorhanden. Eine effektive Umsetzung von Traction ist dann kaum möglich.

Identifizierung und Kundenwachstum
Erst mit der klaren Abgrenzung einer Kundenzielgruppe liess sich für Lost-Tag ein Tractionziel, das heisst ein Kundenwachstumsziel, festlegen. Anschliessend wurde für jeden der 19 Marketingkanäle eine mögliche Massnahme entwickelt, die das Potenzial hätte, das festgelegte Wachstumsziel zu erreichen. Die drei erfolgversprechendsten Marketingkanäle wurden systematisch ausgewählt und anschliessend getestet. Als Ergebnis der Tests ergab sich ein optimaler Vermarktungskanal, mit dem das stärkste Kundenwachstum realisiert werden konnte. Gleichzeitig wurde das Know-how vermittelt, damit Lost-Tag den Tractionansatz künftig auch für andere Produkte und Dienstleistungen anwenden kann. Zafar Hasher, Gründer von Lost-Tag und erfolgreicher Absolvent des FFHS Bachelorstudiengangs Wirtschaftsingenieurwesen, bringt es auf den Punkt: «Durch die Anwendung von Traction haben wir eine völlig neue Kundenzielgruppe identifizieren können, die wir vorher nicht auf dem Schirm hatten. Mit dieser Neuorientierung und der konsequenten Fokussierung auf einen Marketingkanal konnten wir ein enormes Umsatzwachstum erreichen.»

Integration in den Innovationsprozess
Bei Lost-Tag konnte – nachdem die Herausforderung erkannt wurde – die frühzeitige Marktentwicklung relativ schnell implementiert werden. Dies war möglich, weil wie in einem Start-up üblich die Prozessabläufe noch nicht etabliert waren. Wie aber lässt sich die frühzeitige Marktentwicklung in einem KMU mit etablierten Prozessen implementieren und somit die Voraussetzung für die erfolgreiche Umsetzung von Traction schaffen? Diese Frage ist Gegenstand eines geplanten Forschungsprojektes. Dabei soll die Marktentwicklung, das heisst die Gewinnung neuer Kunden, deutlich früher im Produktentwicklungsprozess integriert und datenbasiert entlang optimaler Marketingkanäle systematisch vorangetrieben werden. Die dafür zu entwickelnde Methodik soll KMU befähigen, bereits zu Beginn des Produktentwicklungsprozesses, auch die Kundenakquise und die Entwicklung von Absatzmärkten zu forcieren.

Kürzerer Time-to-Market-Prozess
Schweizer Start-ups und KMUs profitieren in mehrfacher Hinsicht vom Potenzial des Tractionansatzes. Schnelles Kundenwachstum ist der wichtigste Nutzen der Implementierung von Traction. Durch die systematische Auswahl eines optimalen Vermarktungskanals werden mehr potenzielle Kunden angesprochen. Die gezieltere Ansprache führt zu einer höheren Anzahl an erfolgreichen Kundenkontakten.

Neben schnellem Kundenwachstum können Unternehmen kürzere Time-to-Market-Zeiten realisieren. Die frühzeitige Eruierung der Marktseite erlaubt eine schnellere und zielgerichtete Neuproduktentwicklung. Das Risiko, am Bedarf vorbei zu entwickeln, wird dadurch gesenkt.

Traction erlaubt weiterhin, das Kundenwachstum zu quantifizieren und analysieren. Die gewonnenen Daten können für Entscheidungen genutzt werden. Die Daten eignen sich insbesondere dafür, die Produkte und Dienstleistungen zu optimieren sowie die Ausdifferenzierung der Angebote voranzutreiben. Der Kundennutzen wird dadurch erhöht und eine allfällig stagnierende Aufmerksamkeit der Kunden überwunden.

Last but not least kann durch die Umsetzung von Traction auch die Innovationskultur in Unternehmen verbessert werden. Der Ansatz komplementiert die häufig typische Technikorientierung mit einer Marktorientierung. Gerade Start-ups können so das meist exzellent vorhandene technische Fachwissen mit einem kundenbezogenen Marktdenken erweitern und so die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Skalierung ihres Geschäftes schaffen.

Anmerkungen

1) Der hier erschienene Artikel ist eine leicht erweiterte und überarbeitete Version des Blogbeitrags «Digitalisierung im Marketing: agiles Kundenwachstum mit Traction» unter www.ffhs.ch/blog

2) Traction: How Any Startup Can Achieve Explosive Customer Growth