Megatrends wie Industrie 4.0, Cloud Computing, Mobility, Internet der Dinge deuten kommende gesellschaftliche Umwälzungen an. In diesem Rahmen sind auch die Anbieter von Business-Software durch die fortschreitende Digitalisierung ihrer Prozesse mit Herausforderungen konfrontiert. Das betrifft ihre internen Geschäftsmodelle, aber auch das Business ihrer Kunden. Wir führten dazu ein Interview mit Claudio Hintermann, dem CEO und Chefstrategen der ABACUS Research AG. Das Gespräch beginnt mit einer sehr konkreten Herausforderung und endet mit der Thematisierung von drohenden negativen gesellschaftlichen Szenarien.

Unser Thema ist heute Digitalisierung und ihre Folgen. Fangen wir mit einem konkreten Punkt an, der digitalen Rechnung. Ein Fachbegriff spielt hier eine zentrale Rolle: «ZUGFeRD». Es geht aber nicht um Pferde, die alte Kutschen ziehen. Um was geht es?
Der zuständige Fachverband in Deutschland hat ein Format definiert, was die inhaltliche Ausgestaltung der elektronischen Rechnung betrifft. Es geht um einen Standard. Nur so können alle Beteiligten erkennen, an welcher Stelle sich der Prozess gerade befindet, wie der Inhalt aussieht und wie er zu bearbeiten ist. Der Vorteil dabei: Die Marktteilnehmer müssen sich nicht kennen. So kann die Rechnung sofort automatisch eingelesen werden. Dieses einheitliche Format wurde vor zwei Jahren von deutschen Verbänden, Ministerien und Unternehmen entwickelt. Inzwischen integrieren die meisten Software-Hersteller in Deutschland diesen Standard in ihre Programme. Damit realisieren sie mehr Effizienz und haben schliesslich Wettbewerbsvorteile.

Normalerweise ist die Schweiz im Benchmark, was Business-Themen betrifft, fast immer oben auf dem Treppchen. Ist das aus Ihrer Sicht hier nicht der Fall?
In der Schweiz haben wir es schlicht unterlassen, einheitlich zu definieren, wie die Rechnung inhaltlich aussehen soll. Folglich müssen sich die Marktteilnehmer in komplizierte Kommunikationsprozesse begeben. Das ist in der Praxis ein schlicht unbrauchbarer Zustand.

Schauen wir auf die Praxis. Was heisst dies nun konkret für die Marktteilnehmer?
In der Schweiz sind nur die Bankeninformationen standardisiert. Im Prozess der Rechnungsabwicklung erkennen die Beteiligten aber nicht automatisch, was ein Skonto, was eine Teilzahlung und eine Mehrwertsteuer ist. Das ist aber die Voraussetzung, damit eine ERP-Software (Enterprise-Resource-Planning) die Informationen automatisch ­verarbeiten kann. Das heisst konkret, wir können die Rechnung nicht automatisch einlesen und verbuchen. Ohne Absprache des Formats kommen wir hier nicht weiter. Ausser man geht über einen Provider. Das ist aber eine kostspielige Lösung.

Offensichtlich ist hier aktuell in der Schweiz kein Standard in Sicht. Wie sieht Ihre Lösung aus?
Wir schliessen uns der «ZUGFeRD-Lösung» an. Die Deutschen haben sich inzwischen auch mit den Franzosen geeinigt. Damit hat man einen Standard im europäischen Raum zur Verfügung. Das hat eine gewisse Sogwirkung. Ein Exportland wie die Schweiz ist da fast gezwungen mitzumachen.

Es macht jetzt keinen Sinn mehr, ein eigenes Format für die Schweiz zu entwickeln. Die Schweiz sollte sich anschliessen, sonst hinken wir an diesem Punkt der digitalen Transformation hinterher.

Mit dem Stichwort digitale Transformation sind wir bei einem Megatrend. Es gibt noch weitere bedeutungsschwangere Stichworte wie Industrie 4.0. Alles wird digitalisiert, was ­digitalisiert werden kann. Was heisst dies eigentlich für die Anbieter von Business-Software?
Man kann davon ausgehen, dass fast alle Prozesse automatisch durchgängig werden. Der heutige Computer hat ja noch eine Tastatur. Das wird bald sehr altmodisch aussehen. Die meisten Informationen wird der Computer in naher Zukunft selbst verarbeiten können. Der Mensch erfasst nicht mehr selbst die Transaktionen. Computer kommunizieren miteinander. Dann gibt es auch kaum mehr Papier im Büro, es wird im Büroalltag schlicht überflüssig.

Das papierlose Büro haben in den letzten zehn Jahren aber schon viele an die Wand gemalt. Der Zustand ist aber nicht eingetreten.
Wenn standardisierte Bürovorgänge zwischen Computern erledigt werden, ist Papier auf Nischenmärkte beschränkt. Nur in seltenen Fällen, bei denen Computer nicht mehr weiterwissen, werden sie den Menschen für die weitere Bearbeitung brauchen. Software-Lösungen orientieren sich immer mehr an Prozessen. Die Informationen werden auch immer weniger in den Firmen selbst generiert und erfasst. Dies geschieht viel mehr von mobilen Devices aus. Das verändert die Software. Sie agiert an unterschiedlichsten Orten und zu unterschiedlichsten Zeitpunkten. Das sind die zentralen Herausforderungen, für die Anbieter von Business-Software, und damit auch für mein Haus.

Kaufen wir in einigen Jahren überhaupt noch Software?
Das ist nicht mit einem Ja oder Nein zu beantworten. Es gibt bei uns viele Kunden, die wollen Software weiterhin kaufen. Andere gehen in die Cloud oder mieten eine Lösung. Es gibt inzwischen eine grosse Zahl von Lizenzierungsmodellen auf dem Markt. Als Anbieter gilt es, flexibel zu sein, um unterschiedlichen Zielgruppen die richtige Lösung anbieten zu können.

Auf der Veranstaltung «Die Zukunft der Business-Software» am 26. September 2016 in Baden haben Sie folgende zentrale Herausforderung in eine Frage an die anwesenden Unternehmerinnen und Unternehmer gekleidet: «Wie bleibe ich relevant?» Was heisst das?
In dem Konstrukt, in dem Computer miteinander kommunizieren, stellt sich schnell die Frage, wo meine Rolle als Software-Anbieter mit all den verschiedenen und damit verbundenen Dienstleistungen bleibt. Wenn wir und andere Unternehmen diese Frage nicht beantworten, können wir und sie nur in der Position eines Monopolisten, vielleicht noch in einem organisierten Oligopol oder in ganz spezifischen Nischen, überleben. Der Markt hat die Tendenz, alles Irrelevante zu vernichten.

Das tönt nach einer neuen industriellen Revolution mit vielen Verwerfungen und Zerstörungswellen à la Joseph Schumpeter. Eine gängige These heisst hier: Es verschwinden viele Jobs, gleichzeitig entstehen aber viele neue Jobs. Ist das so?
Das ist eine grosse Frage, und es gibt viele Szenarien dazu. Ich bin da nicht ganz so optimistisch. Es werden in den nächsten Jahren durch die Automatisierungsprozesse sehr viele Jobs in unterschiedlichsten Branchen verschwinden. Das betrifft sowohl sehr gut als auch schlecht bezahlte Angestellte und Arbeiter. Es sind dabei alle Sektoren – die Industrie, die Landwirtschaft und die Dienstleistungen – betroffen. Ich sehe nicht wirklich, an welchem Punkt denn die gleiche Anzahl von neuen Jobs entstehen soll. Rationalisierungsprozesse sind, da werde ich wieder etwas optimistischer, aber nicht nur eine Gefahr, sondern auch eine Chance.

Das hört sich auf jeden Fall für die gesamte Gesellschaft sehr herausfordernd an. Heute sprechen wir ja alle vom Fachkräftemangel. Dreht sich da ein Bild?
Fachkräftemangel wird es weiter geben. Auch wir suchen sicher auch in Zukunft, den auf den aktuellen Stand ausgebildeten Informatiker. Schon heute gibt es aber viele falsch qualifizierte Informatiker auf dem Markt. Man wird in der Schweiz sicher auch in den nächsten Jahren hoch qualifizierte Nuklearphysiker benötigen. Die Anzahl solcher Jobs ist jedoch beschränkt. Nicht jeder hat die geforderten Qualifikationen für eine beschränkte Anzahl von Jobs. Zudem verändert sich das Profil dieser Jobs innerhalb von wenigen Jahren.

In einem Land mit einem calvinistischen Arbeitsethos ist eine grössere Hürde kaum denkbar. Skizzieren wir doch mal ein Bild. Es gibt einig hoch qualifizierte Jobs, eine steigende gesellschaftliche Gruppe, die den Working Poor zuzurechnen ist, und eine schmaler werdende Mitte. Die Gesellschaft bewegt sich bildlich in die Richtung einer Sanduhr. Das ist ein bedrückendes Bild?
Aber ein mögliches Szenario. Ich überlege mir auch schon, welche Jobs meine Kinder eigentlich ausfüllen können. Es gibt folglich nicht nur die gesellschaftliche Frage, wie die junge Generation die alte Generation finanziert. Es geht um viel mehr. Es muss ein grosses Umdenken geben. Wir müssen hier Szenarien und Lösungen offen diskutieren.

Und in solch eine Situation stossen ­nationale Populisten jede Tür auf. Donald Trump ist kein Unfall.
Wenn die Leute von der Komplexität einer Situation überfordert sind, wollen sie nicht jemanden hören, der ihnen das alles analytisch auffächert. Sie wollen jemanden hören, der ihnen ein einfaches Konzept gibt, eine einfache Lösung für einen Sachverhalt, der nicht verstanden wird. In einer solchen Umwälzungsphase ist die Gefahr von Populisten sehr real. Sie zeigen mit dem Finger auf einen Sündenbock und argumentieren monokausal. Es wird ein einfaches Märchen erzählt. Hier steht dann letztlich die Demokratie auf dem Spiel.

Und die New Economy aus dem Silicon Valley, kann sie uns gegen die Old Economy von Donald Trump nicht helfen?
Nein. Dort findet ein umfassender Zentrali­sierungsprozess statt. Es geht um Apple, Google, Amazon oder Facebook, die sich die kleinen neuen Player einverleiben. Wir erleben hier eine Konzentration auf ganz wenige Marktteilnehmer. Dies trägt auch dazu bei, dass die Einkommensschere sich immer weiter öffnet. Da gibt es wenige Gewinner und viele Verlierer. Das ist noch mehr Futter für die Populisten.

Jetzt haben wir die Themen, an denen wir die nächsten Jahre arbeiten müssen, gut auf den Punkt gebracht. 

ZUGFeRD – einheitliches Format für elektronische Rechnungen
Das Forum elektronische Rechnung Deutschland (FeRD) hat ein gemein­sames übergreifendes Format für elektronische Rechnungen erarbeitet, das für den Rechnungsaustausch zwischen Unternehmen, Behörden und Verbrauchern genutzt werden kann und den Austausch strukturierter Daten zwischen Rechnungssteller und Rechnungsempfänger ermöglicht («ZUGFeRD»-Format).

Das ZUGFeRD-Rechnungsformat erlaubt es, Rechnungsdaten in struk­turierter Weise in einer PDF-Datei zu übermitteln und diese ohne weitere Schritte auszulesen und zu verarbeiten.

Das FeRD-Rechnungsformat wurde von Unternehmen aus der Automobil­industrie, dem Einzelhandel, dem Bankensektor, der Software-Industrie, aber auch vom öffentlichen Sektor erarbeitet.

Es entspricht den Anforderungen der internationalen Standardisierung und kann auch im grenzüberschreitenden europäischen und internationalen Rechnungsverkehr aufgenommen und angewendet werden.

Weitere Informationen:
www.abacus.ch