Der Entscheid der SNB vor anderthalb Jahren hinterlässt immer noch Bremsspuren in der Schweizer Wirtschaft. Es gab allerdings keinen massiven Einbruch, wie von einigen prophezeit. Umgekehrt nur von einem Fitnessprogramm für die Schweizer Wirtschaft zu sprechen, wäre aber auch zu rosa gezeichnet. Dazu kommen einige schwierige Baustellen in der Weltwirtschaft. Grund genug, mit Martin Neff, dem Chefökonomen von Raiffeisen Schweiz, ein Hintergrundgespräch zu führen.

Auch 2016 ist die Währung in der Schweiz ein wichtiges Thema. Nach dem Wechselkursschock vor fast anderthalb Jahren ist das volle Ausmass der sprunghaften Frankenaufwertung nicht vollständig sichtbar. Martin Neff rechnet mit einem weiter langwierigen Anpassungspfad. «Historische Erfahrungswerte für einen derart extremen Wechselkursschock sind nicht vorhanden, umso unberechenbarer sind die Folgen», betont Martin Neff. «Die industrielle Basis der Schweiz ist angeschlagen wie selten zuvor.

Die Wirtschaft löst sich nur langsam aus der Schockstarre, und für viele Unternehmen, insbesondere in der Zuliefererindustrie, gibt es kaum Möglichkeiten, die verlorene preisliche Wettbewerbsfähigkeit wieder herzustellen. Zwar wirkt der Ölpreisverfall dämpfend, ebenso dass der Franken zum Euro heute näher bei 1.10 als bei Parität liegt. «Es besteht allerdings die Gefahr, dass die Schweiz einen Teil ihrer industriellen Basis endgültig verliert», so Martin Neff. «Das wäre verheerend, denn diese ist ein wichtiger Schlüssel zum Wohlstand des Landes der Bastler und Tüftler.»

Der stetige, meist moderate Aufwertungsdruck auf den Franken ist eine historische Tatsache, mit der sich die Schweiz arrangieren konnte. Dank der starken Währung ist die Wertschöpfungsintensität der Industrie höher als anderswo und auf wenige Branchen und Nischen konzentriert. Eine Schockwelle, wie sie die Schweizerische Nationalbank am 15. Januar 2015 auslöste, lässt sich jedoch nicht einfach wegstecken. Sie traf die Wirtschaft heftiger, als sich in den Zahlen bisher zeigte. «Die Schweiz ist eines der wenigsten Länder, das seine Wirtschaft einem derart rauen Klima aussetzt, ohne Härten abzufedern», sagt Martin Neff. «Das ist bedenklich, da die Wirtschaft abgewürgt zu werden droht. Erst recht in einer Zeit, in der man noch weit entfernt von einer geldpolitischen Normalisierung ist.» Die Ökonomen von Raiffeisen plädieren dafür, dass der Bund die Wirtschaft gezielt selektiv unterstützt, bis der Anpassungsprozess aus eigener Kraft fortgesetzt werden kann.

Nun liegen die Hoffnungen auf der globalen Konjunktur und insbesondere auf Europa, dem wichtigsten Handelspartner der Schweiz. Allerdings verdeutlichen die Volatilität der Aktienmärkte und politische Krisenthemen wie das Anschwellen des nationalen Populismus, dass gleichzeitig die Lösungserwartungen und die Nervosität hoch sind. Das ist eine ungute Mischung.

Im Stich gelassen

Geschäftsführer: Sie haben von den Bremsspuren gesprochen, die der SNB-Entscheid immer noch hinter sich herzieht. Was heisst dies konkret?
Martin Neff: Springen wir doch gleich in die Praxis. Viele Zulieferer sind in der Schweiz angesiedelt, zum Beispiel Automobilzulieferer, im Maschinenbau oder in der Baubranche. Zunächst stellt sich die Frage, ob das Unternehmen auf den Export fokussiert ist. Der Binnenmarkt in der Schweiz, beispielsweise im Metallbau, hat einige Schutzwälle, wenn er nur regional aufgestellt ist. Wir haben nun einige Metallbauer in der Schweiz, die Wettbewerbstreiber sind und den Innovationsgedanken pflegen. Faktisch überraschen sie ihre Kunden, da sie immer wieder einen noch besseren Wirkungsgrad aus ihrer Maschine herauskitzeln oder neue Materialien mit neuen Techniken bedienen.

Können Sie uns ein Beispiel verraten?
Bei einem grossen Audi, der knapp zwei Tonnen wiegt, kann es heute bei einem neuen Modell zu einer Gewichteinsparung von 50 Kilogramm kommen. Das ist prozentual wenig, aber aus Innovationsgesichtspunkten sehr viel. Allerdings können Unternehmensverantwortliche, die mit einem 20-prozentigen Wechselkursschock seit anderthalb Jahren konfrontiert sind, trotz ihrer Innovationsbemühungen solche Schocks kaum wegstecken.

Nehmen Sie noch ein drastisches Beispiel: die Kugellagerproduktion in der Schweiz. Der Innovationsgrad ist hier nicht gross. Es gibt noch einen gewissen Distanzschutz oder eine bessere Lieferbereitschaft. Solche Argumente, die lange für den inländischen Zulieferer sprachen, stehen nun schwer unter Druck oder kippen sogar weg, da die Preisdifferenz zu gross ist. Die zentrale Frage ist: Habe ich als Kugellagerlieferant ein Differenzierungspotenzial? Ich behaupte Nein. Der Kunde ist heute sehr mobil, und ich kann als Produzent ersetzt werden.

Und jetzt kommen die Gegenbeispiele?
Ja. Wenn ich aber Tachometergase produziere, die unter dem Tachometer angesiedelt sind und hohe Temperaturen nicht aufkommen lassen, oder wenn ich Sensoranbieter der neusten Generation bin, der Autobesitzer beim Rückwärtsfahren, akustische Signale liefert. In solchen Fällen ist dann oft Schweizer Know-how drin, welches sich nicht einfach ersetzen lässt.

Oder die Batteriefabrik der neusten Generation von Hayek, die die E-Mobilität einige Schritte nach vorne bringen soll …
Richtig. Dann bewege ich mich in dem Bereich der nicht mobilen Schumpeter-Güter. Das klingt jetzt sehr akademisch, bezeichnet aber genau dieses Prinzip. Ganz augenscheinlich wird es bei der Pharmaindustrie oder den Präzisionsinstrumenten, medizinische Messtechnik beispielsweise. Es kann nicht sein, dass der Mediziner Hunderte von Kilometern entfernt sitzt, der Ingenieur mit seiner Entwicklungsabteilung auf halbem Weg angesiedelt ist und der Designer und verantwortliche Marketingmensch wieder wo ganz anders ist. Das funktioniert meist nicht. Experten sprechen in solchen Fällen von einem ziemlich eng gestreamten Wertschöpfungsprozess. Das ist ein gutes Beispiel für ein nicht immobiles Wirtschaftsgut.

Kommen wir zur SNB-Politik. Kommt das dicke Ende nach dem Schock noch?
Das ist übertrieben. Die Schweizer Volkswirtschaft hat diesen Schock noch nicht verdaut. Das ist das bessere Bild.

Warum diskutiert man in der Schweiz nicht alternative Szenarien zu dieser Schockpolitik, die zwar durch ein Stahlbad und dann für einige zur besseren Wettbewerbsfähigkeit führt, aber früher oder später auch eine massive Insolvenzwelle mit sich bringen kann? Es gibt ja andere Modelle wie die dänische Krone, die im Euroraum ist, aber trotzdem eigene Spielräume hat.
Im gewissen Sinne war dies doch die Politik bis vor anderthalb Jahren. Trotzdem haben Sie Recht, es sollten mehr Szenarien mindestens diskutiert und eine Sensibilität dafür geweckt werden. Warum kann zum Beispiel der Schweizer Staat nicht gewisse Betriebe, unter klar definierten Rahmenbedingungen, für eine gewisse Zeit fördern? Die Medien machen dann daraus gleich das Stichwort «Industriepolitik», und es wird warnend auf das Beispiel Frankreich verwiesen. Man kann das aber besser und viel marktkonformer machen.

Aber jetzt zurück zu dem, was Sie als Schock bezeichnet haben. Es sind sich alle einig, es war ein Schock. Aber den Schock, gab es ja schon früher, dann hat man ihn wieder eingefangen und im Januar letzten Jahres wieder freigelassen. Was fehlte und fehlt, ist eine klare Therapie oder eine nachvollziehbare Reaktion. Das ist nicht Fall. Viele Beteiligte stehen wie das Kaninchen vor der Schlange.

Aber die SNB-Verantwortlichen agieren doch im Hintergrund auf den Währungsmärkten. Das hat man vor einigen Wochen auch gesehen, als der Schweizer Franken zeitweise etwas schwächer agierte.
Das ist richtig, aber keine Therapie. Nochmals: Mit einer kontinuierlichen lang­samen Aufwertung kann die Schweizer Wirtschaft leben, mit solchen Schocks kann es aber ganz schwierig werden. Wir müssen uns überlegen, wie man die Härten ausbügeln kann. Nehmen Sie eine Firma, die eine Marge zwischen neun und zwölf Prozent hat. Diese Marge wird weggefressen. Das heisst, ihre Kalkulation von 2015 ist schon komplett zusammengebrochen, war aber im November 2014 budgetiert. Dann ruft im Februar 2015 der Abnehmer an und sagt, das ist ja alles schön und gut, aber jetzt im Zeichen der neuen Situation müsst ihr uns etwas entgegenkommen. Jetzt ist die Frage: Was macht die Firma heute, und hat sie eine Überlebenschance? Vielleicht, wenn es bei diesem einmaligen Schock bleibt. Wir bekommen pro Jahr normalerweise zwischen zwei und fünf Prozent Aufwertungsdruck. Das ist schon eine heftige Kur. Aber es geht noch. Aber 15 Prozent geht als Normalfall nicht. Das wäre so, als ob Sie bei der Weitsprungqualifikation die Länge auf 8.20 Meter festlegen würden. Das schaffen auf der ganzen Welt drei  Menschen, und es ist keine sportliche Herausforderung mehr, sondern schlicht sinnlos.

Andere Währungsmodelle in die Diskussion, beispielsweise Singapur oder Dänemark, zu holen ist für Sie aber keine Option?
Dänemark ist nicht die Schweiz. Unsere globale Währungsbedeutung ist riesig. Wir sind immer noch die zentrale Fluchtwährung. 2008 sind die Finanzmärkte in Schieflage geraten, die Leidtragende dabei ist die Schweiz, und seit Januar 2015 machen wir kaum bis nichts dagegen. Das liegt mir von der Kausalität her schwer im Magen. Diejenigen, die unter dem Wechselkursschwert leiden, haben nichts mit den Credit Default Swap oder Colateral Debt Obligations und den Akteuren, die damit gehandelt haben, zu tun. Sie haben auch nicht mit den Politikern zu tun, die das Drama um den Euro zu verantworten haben. Das stösst mir ganz bitter auf. Die Schweizer KMU leiden darunter und wissen nicht, was sie tun sollen. Die Kommentare, die ich von da höre, sind nicht gerade aufbauend: «Wir beissen uns durch …» «Ich verdiene im Moment kaum oder kein Geld.» Die Verantwortlichen klammern sich an das Prinzip Hoffnung. Bei 1.12 bin ich wieder in den schwarzen Zahlen. Es geht nicht um Industriepolitik in einem Land mit einer harten Währung, es geht um vorübergehende Härtefallregelungen. Die bisherige Politik lässt die Unternehmen im Stich.

Geht es etwas konkreter, was Lösungen betrifft?
Gewähren Sie mal der Fantasie einen freien Auslauf.

Da bin ich dabei.
Nehmen wir an, die Politik legt eine Wechselkursbandbreite fest, die tolerierbar ist. Wenn diese über einen definierten Punkt hinausgeht, die nicht mehr über Kaufkraftparitäten und Fundamentaldaten erklärbar ist, sondern nur mit emotionalen Reaktionen an den Finanzmärkten, dann ist aus meiner Sicht der Zeitpunkt gekommen, die Härten herauszunehmen.

Das erinnert mich an die Europäische Währungsschlange der Siebzigerjahre des letzten Jahrhunderts, als europäische Regierungen ihre Währungen in eine festgelegte Bandbreite packten.
Ja, es geht um Handlungsoptionen. Der Euro wird ja kompetitiv flachgeklopft. Das können wir nicht. Wir können aber Risiken abfedern.

Weitere Informationen: www.raiffeisen.ch