Am GDI geht es um die grossen Fragen des gesellschaftlichen Zusammenhalts. (© Kaufmännischer Verband Zürich)

Unter dem Titel «Leistungsgesellschaft total – oder am Limit?» fand Ende Januar zum neunten Mal die vom Kaufmännischen Verband Zürich und dem Kaufmännischen Verband Bern organisierte Impulstagung am Gottlieb Duttweiler Institute (GDI) statt. Die Referentinnen und Referenten setzten sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit den Chancen und Herausforderungen der heutigen Leistungsgesellschaft, im Rahmen der digitalen Transformation, auseinander. Es ging in erster Linie um verschiedene Ansätze, dank denen wir trotz omnipräsenter Beschleunigung und gestiegener Anforderungen durch die Digitalisierung nicht aus dem Gleichgewicht geraten.

Die Anforderungen im Job steigen, ein Termin jagt den anderen und die schier unendlichen Möglichkeiten im Privatleben machen es auch nicht einfacher: Was können wir tun, damit wir
nicht Gefahr laufen, aus dem Gleichgewicht zu geraten? Der renommierte Stressund
Depressionsforscher Prof. Dr. med. Gregor Hasler von der Universität Fribourg setzt dem wachsenden Druck der Arbeitswelt 4.0 die Stärkung der Resilienz entgegen. Als langjähriger Psychotherapeut kennt er Massnahmen, um die eigene Widerstandskraft wachsen zu lassen.
Zunächst warf er aber einen weiten Blick zurück in die Geschichte des Homo sapiens, um die Dimension der Herausforderung zu verdeutlichen. Aufgrund materieller Sicherheit, flächendeckendem Bildungsangebot und kürzerer Arbeitszeit zeigt das Barometer der Resilienz (psychische Widerstandsfähigkeit) stetig nach unten. Vor 10’000 Jahren unternahmen die Menschen mit der Entwicklung der Landwirtschaft die ersten Schritte Richtung Leistungsgesellschaft. Diese Zeitspanne habe unserem Gehirn nicht gereicht, sich anzupassen. Stress und Depressionen könnten die Folge davon sein.

Eein Massnahmenbündel
Konkret schlug er in seinem Referat ein Drei-Punkte-Programm vor: «Zuallererst gilt es, möglichst viel von der Leistungsgesellschaft zu profitieren. Investieren sollte man vor allem in die Selbst-Wirksamkeit und -Fitness, sozusagen als sein eigener Chef, der dem Leben und dessen Herausforderungen offen begegnet. Drittens ist es wichtig, lokale Kooperationen zu entwickeln und zu pflegen. Der unmittelbare Austausch im Quartier, im Verein, am Wohnort und die Pflege der realen Beziehungen hilft enorm.» Um die eigene Resilienz zu stärken, führte
er konkret folgende Punkte auf:
>>Selbst-Wirksamkeit (Erfahrungen, dass man etwas bewirken kann)
>>Selbst-Verantwortung (das Leben in die Hand nehmen, sich nicht beklagen, handeln)
>>Selbst-Akzeptanz (nicht zu perfektionistisch sein – bei sich und bei anderen)
>>Zukunftsorientierung (offen sein für Neues, Risikobereitschaft)
>>Lokale Verbindungen pflegen (Netzwerk in der Nachbarschaft ausbauen)

Auf das Wesentliche konzentrieren
Führungscoach Angelika von der Assen beleuchtete die Wirkungen von achtsamer
Führung. Sie sprach von einer «Action Addiction» in einer Welt, die von der totalen
«Busyness» geprägt ist. Die Gegenthese heisst für von der Assen, die Head of Management
Development bei der Axpo ist: weniger tun bringt mehr. «Wir sind human beings, verhalten uns aber wie human doings – immer unter Strom.» Bei rund 40’000 bis 60’000 Gedanken und Gefühlen pro Tag sei es nicht einfach, den Fokus zu behalten.

Der heutige, schnell getaktete Arbeitsalltag sei zudem unbeständig, ungewiss, komplex und mehrdeutig. «Keiner zwingt uns, ins Hamsterrad einzusteigen. Wir selbst sind es, die uns diesem Stress aussetzen.» Von der Assen hielt aus diesem Grund ein klares Plädoyer gegen Multitasking, das kurzfristig mehr Zeit und Fehler bewirkt und langfristig eine Reduktion der Intelligenz mit sich bringt. «Achtsamkeit kann sich demgegenüber lohnen: Durch weniger
Tun und mehr Sein gewinnen wir nämlich Tempo für das Wesentliche.» Achtsamkeit lehre die Menschen, mit ständigen Veränderungen umzugehen und das heute gefragte agile Mindset zu entwickeln: Offenheit für Neues, fokussiertes und klares Denken und die Fähigkeit zur Selbstreflexion und Innovation.

Der Weg aus der «busyness» sei Innehalten und mit sich selbst in Kontakt zu treten. Es brauche mehr Balance zwischen Tun und Sein.

Was brauchen wir laut von der Assen, damit wir achtsamer werden?
>>Aufmerksamkeit, Fokus und Präsenz
>>innere Ruhe
>>Klarheit
>>Selbststeuerung
>>Und wie erreichen wir das?
>>Innehalten, im Moment präsent sein
>>kein Multitasking
>>weniger Handy und Co.
>>loslassen
>>seine Vision kennen
Der Suche nach der richtigen Balance zwischen Forderung und Überforderung widmete sich Juan Vörös, Unternehmer, Abenteurer und Yogalehrer. Seiner Erfahrung nach wird Motivation nicht durch Zielsetzungen und Druck gefördert: «Früher waren die äusseren Gefahren viel grösser. Heute leben wir in vergleichsweise sicheren Zeiten. Dafür sind wir einem enormen Erwartungsdruck ausgesetzt. Die Lebenskunst ist, im Moment zu sein, das ganz zu machen, was man gerade macht, und keinen Perfektionismus anzustreben.»

Mehr Anerkennung, weniger Status
Zudem stellte er die Fragen in den Raum: «Bin ich am richtigen Ort, in der richtigen
Beziehung, im richtigen Job?» Falls nicht, sei es jetzt Zeit, diesen Zustand zu ändern, weil das über längere Zeit Stress und Depressionen fördere. Auch lohne es sich nicht, Zeit und Energie zu investieren, wo kein Respekt und keine Wertschätzung vorhanden sei. Wir bräuchten nicht nur Status, sondern Anerkennung. Sein Fazit: «Nicht immer alles auf später verschieben. Wenn ich am fal¬schen Ort bin, kann ich lange auf die ersehnte Belohnung warten.»

Bestsellerautor und Honorarprofessor für Philosophie, Richard David Precht, sezierte unsere Gesellschaft und zeigte sich dabei überzeugt: «Die Zukunft ist bereits da – höchste Zeit also, um zu handeln. Die bürgerliche Gesellschaft ist eine Leistungsgesellschaft und diese wird
gerade durch eine Revolution abgelöst, die viele nicht wahrhaben wollen. Sie kann, muss aber nicht, viele Arbeitsplätze kosten.»

Für Precht sind Menschenwürde und menschliche Freiheit die zentralen Punkte bei der Digitalisierung. Wir seien uns nicht bewusst, wie revolutionär die Zeiten sind, in denen wir leben: «Das erste Maschinenzeitalter hat die menschliche Hand ersetzt – das zweite ersetzt das menschliche Gehirn.»

Seine Prognose für unsere Arbeitsgesellschaft der Zukunft: Der technische Fortschritt produziere mehr neue Arbeit, als dass er alte Arbeit vernichtet. Die Produktivität
werde durch die Digitalisierung stark wachsen, das nütze aber nur, wenn auf der anderen Seite die Kaufkraft steige. Das führe zwingend zu einem Grundeinkommen
für alle. Denn: Die Daten armer Leute seien nichts wert.

In Prechts Augen werden in der Arbeitswelt 4.0 vor allem in IT-, Handwerks- und Empathie-
Berufen Jobs generiert werden. Humane Leistungsprofile also, die sich durch Maschinen nicht so rasch und einfach ersetzen lassen. «Damit die neue Leistungsgesellschaft
in der westlichen Hemisphäre funktioniert, braucht es einerseits einen Umbau unseres Sozialwesens. Und andererseits die Schaffung eines Grundeinkommens, damit Konsumenten weiterhin die Wirtschaft in Schwung halten.»

«Langweilige Arbeit lassen wir durch Maschinen erledigen, sinnstiftende Arbeiten hingegen sind für den Menschen reserviert. Zufriedenere Menschen, die sich einbringen können, schaffen ein neues Gesellschaftsmodell, das nach dem Prinzip der Selbstbelohnung funktioniert», ist
Richard David Precht überzeugt. Unsere Gesellschaft müsse sich in Wirtschaft und
Mentalität wandeln. Weniger brauchen, mehr teilen, mehr Investitionen in Menschlichkeit
und Eigeninitiative. Der Mensch bestehe zwar aus über 80 Prozent H2O und sei ein unerschöpflicher Datenlieferant. Und doch seien wir, so argumentierte Precht abschliessend, weitaus mehr als nur Wasser und Daten.

www.kfmv.ch/de
www.gdi.ch