Das Thema Nachhaltigkeit beschäftigt auch die Finanzbranche.

Das Thema Nachhaltigkeit hat trotz der Corona-Krise nicht an Relevanz verloren. Im Gegenteil: Einiges deutet darauf hin, dass Nachhaltigkeitsüberlegungen infolge der für viele Unternehmen dramatischen Umstände noch stärker ins Zentrum rücken werden. Investoren und Finanzdienstleister werden dem Thema Nachhaltigkeit noch mehr Beachtung schenken. Aber auch die Regulatoren sind weltweit dabei – allerdings mit teils sehr unterschiedlichen Ansätzen –, die Finanzbranche auf Nachhaltigkeit zu trimmen. Allerdings ist der Begriff schwammig und es fehlen standardisierte Messverfahren.

Auf den ersten Blick ist das Thema nachhaltige Geldanlagen gut in Fahrt. In den letzten Jahren gab es einen kleinen Boom. Einige Akteure lehnen sich aus dem Fenster. Zudem ist viel Anlagegeld unterwegs. Von welchen Dimensionen reden wir in der Schweiz eigentlich? Ist das eine Nische oder hat es Fahrt aufgenommen?
Ich glaube eine Nische ist untertrieben, die verlässlichsten Zahlen finden Sie in der diesjährigen Marktstudie von Swiss Sustainable Finance (SSF). Das Anlagevolumen hat sich von 2014 bis 2018 verzehnfacht. Damals lag es bei 71 Milliarden CHF, 2018 lag es bei 717 Milliarden. Davon sind rund 90 Prozent des Volumens den institutionellen Anlegern zuzurechnen. Die letzten Zahlen aus dem Jahr 2019 liegen bei über 1.1 Milliarden CHF in nachhaltigen Anlagen. Das ist beeindruckend, denn das sind in etwa ein Fünftel der Gelder, die in der Schweiz verwaltet werden. Gemäss Bankiervereinigung ist dies doppelt so hoch wie der weltweite Durchschnitt.

Der Trend ist sozusagen eindeutig und die Schweiz ist Trendmacher. Die Bankiervereinigung ist ja selber im Juni mit einem Grundsatzpapier rausgekommen, können Sie dazu noch kurz etwas sagen?
Das ist korrekt. Das Grundsatzpapier kann man eigentlich im Kontext des Strategiepapiers des Bundesrats sehen, dort ist eine Arbeitsgruppe angesiedelt, die Ende Juni einen entsprechenden Bericht herausgebracht hat. Das Ziel ist klar: Es geht darum, die Schweiz als ein Zentrum für nachhaltige Anlagen weltweit zu etablieren. Es geht um den Standort Finanzplatz Schweiz, der sich weiterentwickeln und neu positionieren muss. Nachhaltigkeit ist hier ein wichtiges Modul, um gegenüber anderen Finanzstandorten zu punkten. Diese Ambitionen werden von der Bankiervereinigung natürlich unterstützt.

Auch international gibt es zunehmend Gruppen aus der Branche, die sich klar positionieren. Ein Beispiel ist die Climate Action 100 +. Die Gruppe setzt sich aus 320 globalen Asset Managern zusammen, die mehr als 33 Billionen US-Dollar an Vermögen verwalten. Ihr Ziel: dafür zu sorgen, dass die grössten Treibhausgas-Emittenten der Welt endlich die nötigen Massnahmen zum Schutz des Klimas ergreifen und Forderungen aus dem Weltklima-Gipfel von Paris aus dem Jahr 2015 umsetzen. Zu der Initiative gehören solch namhafte Investoren wie Amundi, Axa, BNP, HSBC, Kames oder Natixis. Eigentlich könnte eine solche Marktmacht viel bewegen. Ist das so?
Ja, das ist eine sehr erfreuliche Entwicklung. Grosse institutionelle Anleger werden immer sensibler in Bezug auf diese Themen wie Risiken des Klimawandels oder den Verlust der Biodiversität. Die Verantwortlichen fürchten um den Wert ihrer Investments. Das hat weniger mit ethisch ökologischen Fragestellungen als mit harten Businessthemen zu tun. Das Portfolio soll Nachhaltigkeitsrisiken und deren finanzielle Auswirkungen berücksichtigen. Weitergehend stellt sich die Finanzindustrie aber durchaus die Frage, was ihr Beitrag zum Erreichen der Klimaziele sein soll.

 

Jetzt kommt das grosse Aber. Nachhaltigkeit ist ja ein relativ schwammiger Begriff geworden. Jeder versteht etwas anderes darunter. Das gilt wohl auch in der Finanzbranche Das führt zu sehr individuellen Argumentationsketten und letztendlich zu Verwirrung. Welchen Aussagewert haben vor diesem Hintergrund die Aussagen zu Nachhaltigkeit?
Das ist ein heikler Punkt. Wie die neuste Studie unseres Hauses «Clarity on Sustainable Finance» zeigt, fehlen einheitliche Standards zur Messbarkeit und Berichterstattung im Nachhaltigkeitsbereich weitgehend. Dies führt dazu, dass die Finanzinstitute selbst entscheiden, ob und wie sie Nachhaltigkeitsüberlegungen in ihr Geschäftsmodell integrieren wollen. Entsprechend höchst unterschiedlich ist der Umgang der Finanzinstitute mit dem Thema Nachhaltigkeit. Dies führt für Anleger zu einer unzureichenden Vergleichbarkeit der als «nachhaltig» angepriesenen Anlagen. Die Herausforderung ist, dass Nachhaltigkeitsthemen (z. B. die 17 Sustainable Development Goals der UNO) extrem breit sind und sich zudem direkt widersprechen. Vor diesem Hintergrund ist es für Unternehmensverantwortliche unmöglich, sämtliche Nachhaltigkeitsthemen gleichzeitig und im selben Mass zu berücksichtigen. Darum ist das Konzept der sogenannten Materialität ein zentraler Punkt. Das bedeutet, dass sich Unternehmen für ihr jeweiliges Geschäftsmodell auf die Nachhaltigkeitsthemen ausrichten sollten, die für ihr Geschäftsmodell und ihre wesentlichen Stakeholder zentral sind. Das ist auch das Grundprinzip der Global Reporting Initiative (GRI), dem weltweit gängigsten Standard für Nachhaltigkeitsberichterstattung. Man sollte immer genau hinschauen, welche Nachhaltigkeitsthemen für ein Unternehmen wirklich relevant sind bzw. wo es eine Wirkung erzielen kann. Das ist in der Praxis nicht immer offensichtlich. Ausserdem sollte man den Fokus auf den Prozess, und nicht den Zustand zu einem statischen Zeitpunkt legen. Zum Beispiel, wenn ein Finanzinstitut Unternehmen im Bereich fossile Energien finanziert, muss es darum gehen, diese Unternehmen bei ihrer Transformationsstrategie in Richtung Nachhaltigkeit zu unterstützen. Dies braucht Zeit. Man kann nicht einfach von heute auf morgen sämtliche Kredite kündigen und überall aussteigen, das hat Implikationen für andere Nachhaltigkeitsfaktoren.

Da muss ich Widerspruch anmelden. Die Wissenschaft hat schon seit Jahrzehnten auf den Handlungsbedarf hingewiesen. Wir wissen seit 1973, (Club of Rome – das Ende des Wachstums) wohin die Reise geht und mit dem Erdgipfel in Rio 1992, was das sich wandelnde Klima für Auswirkungen hat. Das Argument «Hoppla es gibt einen Klimawandel» finde ich nicht schlüssig. Auch den Widerspruch zwischen ökologischen und sozialen Kriterien sehe ich nicht. Man arbeitet genau aus diesem Grund mit den ESG-Kriterien (Enviroment, Social, Governance).
Mir ist bewusst dass viele in der Industrie sich auf eine aggregierte Bewertung hinbewegen, was das Thema ESG betrifft. Es wird sich aber zeigen müssen, ob sich das längerfristig so etablieren wird. Ich kann da nur aus der Praxis heraus argumentieren. Wenn eine Bank oder ein Vermögensverwalter seine Anlageentscheide unkritisch auf solche aggregierten Nachhaltigkeitsratings ausrichtet, kann das schon problematisch sein. Natürlich ist besonders bei der Nachhaltigkeit Klarheit und Einfachheit in der Kommunikation wichtig. Diese darf aber nicht zulasten der Aussagekraft gehen, insbesondere wenn es darum geht, Kleinanlegern aufzuzeigen, was ein «nachhaltiges» Anlageprodukt in Bezug auf Nachhaltigkeitsfaktoren leistet. Diese Vereinfachung, die zum Teil auch erwünscht ist, hat jedoch Grenzen. Die Industrie wie auch die Anleger befinden sich in einem Lernprozess, der noch lange nicht abgeschlossen ist.

Aber braucht es nicht einheitliche Standards und Regulierungsvorgaben?
Damit die Regulierungsbestrebungen effektiv greifen, kommt den Daten und der Berichterstattung eine besondere Rolle zu. Transparenz ist in diesem Zusammenhang essenziell für das Funktionieren der Mechanismen von Sustainable Finance. Es braucht vollständige und verlässliche Nachhaltigkeitsinformationen, damit Finanzierungsentscheidungen entsprechend gefällt werden können. Die unzureichende Verfügbarkeit, Verlässlichkeit und Vollständigkeit dieser Informationen ist aber ein Grundproblem, welches sich nicht kurzfristig lösen lässt.

Ich nehme nochmals einen Anlauf. Könnte man nicht mit einer einfachen Kennzahl weiter kommen? Man nimmt die klaren Klimaziele von Paris, und daraus könnte man eine Kennzahl entwickeln rein statistisch wie hoch die Temperatur des jeweiligen Fonds ist. Also eine Gradzahl die dann an dem Fonds hängt was den Treibhausgasausstoss betrifft, wie er unterwegs ist, und dann habe ich eine klare Zahl mit Bezug auf dieser Ziele von Paris.
Das gibt es bereits. Ich kenne verschiedene Marktteilnehmer, die bei ihren Produkten angeben, was der implizierte Temperaturanstieg dieses Portfolios ist, sprich der Co2 Ausstoss des Unternehmens. DerThink-Tank «2 Degree Investing» Initiative hat ein Tool (PACTA) entwickelt, das öffentlich zugänglich ist und welches auch durch die Schweizer Eidgenossenschaft unterstützt wird. Das Tool berechnet den implizierten Temperaturanstieg eines Portfolios. Es gibt aber aus meiner Sicht klare Einschränkungen. Die verwendeten Techniken sind heute noch mehr Kunst als Wissenschaft. Erstens weil die Qualität der zugrundeliegenden Daten, namentlich der CO2 Ausstoss von Staaten, Unternehmen und auch Immobilien nicht immer gegeben ist. Zweitens, da sehr viel von der Methodologie abhängt, die man verwendet. Die «richtige» und allgemein anerkannte Methodologie gibt es aber noch nicht. Das führt zu den praktischen Limitierungen, die wir heute sehen. Die Temperaturangaben sind sicher ein guter erster Schritt, aber noch nicht der Weisheit letzter Schluss.
Der Knackpunkt liegt in der bislang noch unzureichenden Praxis. Jetzt gibt es aber auch politische Akteure, die Druck ausüben. So hat die EU-Kommission einen European Green Deal ausgerufen. Das wird Folgen haben?
Absolut. Der europäische politische Prozess war schon immer so aufgebaut, dass er stark auf Interaktion zwischen den Institutionen und der Industrie ausgerichtet war, und ich meine, da es sich um politische Prozesse handelt, wird es immer Lobbying geben und immer auch Bremser und Treiber. Was mir aber auffällt bei diesem Prozess ist, dass er von den Europäischen Institutionen relativ kompromisslos vorangetrieben wird. Die Kommission, aber auch das Parlament hat beispielsweise einen sehr ambitionierten Zeitplan vorgelegt und verfolgt offen das Ziel, mit den regulatorischen Vorgaben gewisse Marktentwicklungen zu beschleunigen.

Welche Rolle könnte Ihr Haus hier konkret spielen? Im Grunde braucht es ja Transparenz und unabhängige Begutachtung. Da könnten Sie zum Zug kommen. Sind Sie vorbereitet? 
Wir verfolgen das sehr eng, ich denke der Weg ist klar, es werden immer mehr Nachhaltigkeitsinformationen in den Jahresberichten der Unternehmen verfügbar werden, mit oder ohne Regulierung. Investoren (i. e. Eigen- und Fremdkapitalgeber) verlangen nach immer mehr Informationen, und auch im öffentlichen Beschaffungswesen werden diese immer relevanter. Viele Unternehmen lassen diese bereits jetzt durch eine Revisionsstelle überprüfen. In manchen Ländern ist das für gewisse Unternehmen bereits zwingend – zum Beispiel in Deutschland. Wir antizipieren, dass die Nachhaltigkeitsberichterstattung früher oder später in ganz Europa zwingend werden wird und sich auch die Unternehmen in der Schweiz längerfristig diesem Trend nicht werden entziehen können.

www.home.kpmg/ch/de