Wer das Stichwort Demokratie und Unternehmen in Kombination thematisiert, bekommt meist folgenden Standardsatz zur Antwort: «Neben vielen Indianern braucht es auch einige Häuptlinge.» Es ist auch so, dass in fast allen KMU ein traditionell starkes Hierarchiedenken vorherrscht. Andreas Zeuch ist unser Interviewpartner, und er hat erfolgreiche Gegenbeispiele begleitet. Demokratische Organisationskonzepte sind seit Jahren nicht trotz, sondern aufgrund ihrer demokratischen Struktur erfolgreich. Es gibt aber auch einige Hürden. Es braucht richtige Methoden und Werkzeuge.

Wer heute auf flache Hierarchien setzt, rennt offene Türen ein. Unternehmerdemokraten wollen aber mehr. Ist ein Arbeiten ohne Chef vorstellbar?
Das mit den offenen Türen sehe ich noch nicht so. Die Arbeitgeberwelten sind im überwiegenden Teil weiter klassisch top down strukturiert, genauer im hierarchischen Silodenken verfangen. Die arbeitskulturellen Veränderungen sind in der Breite so noch nicht erkennbar.

Der klassische Patron hat sich nur ­modernisiert und präsentiert alten Wein in neuen Schläuchen?
Lassen Sie es mich so formulieren: Die ­Themen Arbeit / Industrie 4.0, flache Hierarchien oder Unternehmensdemokratie sind Aufgabenfelder,, die die Verantwortlichen auf dem Aufmerksamkeitsradar haben. In Sonntagsreden oder auf Business-Events betont man gerne den Handlungsdruck. Aber es fehlen noch einige Schritte bei der praktischen Umsetzung.

Jetzt gibt es aber ja Bürowelten, die alles andere als hierarchisch aufgebaut sind. Die Angestellten aus unterschiedlichen Hierarchiestufen haben keinen eigenen Arbeitsplatz mehr, sondern wählen zwischen unterschiedlichen Raumtypen aus, zudem wird das selbstverantwortete Home Office gefördert. Solche Konzepte unterlaufen doch klassische Hierarchieketten. Wer heute noch zum Beispiel mit Präsenskultur arbeitet, ist doch von vorgestern.
Das ist ein interessantes Beispiel. Ich habe erst jüngst mit Verantwortungsträgern eines weltweiten Software-Entwicklers gesprochen, wo das ja umgesetzt wird …

Ja, wie auch in der Schweiz bei Micro­soft in Wallisellen …
Da ist viel Oberflächenkosmetik dabei.

Das ist eine steile These, die es zu belegen gilt.
Das ist ganz einfach. Zielvorgaben kommen nämlich immer noch von ganz oben und werden klassisch bis nach unten durchdekliniert. Das hat wenig damit zu tun, sich gemeinsam Ziele zu überlegen und zu entwickeln. Es geht um Kennzahlen oder Leads und dann kommt lange nichts anderes. Das ist weiter eine sehr hierarchische Veranstaltung, die sich einen modernen Anstrich gegeben hat. Sie haben recht, dass es im operativen Bereich inzwischen einige Freiheiten gibt und man sich so in seinem Team oder individuell seine Tätigkeitsbereiche unabhängiger gestalten kann. Aber an den Vorgaben und Zielen darf niemand rütteln. Häufig sind die Zielvorgaben auch noch mit variablen Vergütungsmodellen verknüpft. Nach zwei, drei Jahren kauft man sich aber Probleme ein, da die Angestellten inzwischen ihre Boni automatisch in ihr Gehalt einbeziehen. Wenn dann die neuen Zielvorgaben von oben kommen, fangen die Leute an zu tricksen, um wieder zu ihren 130 oder 150 Prozent zu kommen.

Aber wir haben jetzt auch in kleineren Unternehmen einen Wandel der HR-Unternehmensphilosophie. Wir arbeiten im Zug und haben unsere Teamsitzungen im Restaurant, können auf Server von aussen zugreifen oder sind in Cloud-­Welten tätig. Wir arbeiten in einem gewissen Rahmen autonom. Das ist doch ein qualitativer Wandel?
Da bin ich voll bei Ihnen. Eine Vertrauensarbeitszeit einzuführen, ist ein wichtiger Schritt, und es macht Sinn, sie einzuführen. Nur gibt es ja inzwischen auch negative Kehrseiten. Die Erreichbarkeit, die über 24 Stunden läuft, ist ja gesundheitsgefährdend. Da sind viele Beteiligte ohne böse Absicht in Sackgassen geschliddert. Auch hier, zum Beispiel bei der Einführung von Home Office stellt sich in einer ersten Reflektionsschleife die Frage: Was ist Führung, wo braucht es welche Führung? Es geht darum, welche Verantwortungsfelder ich teilen kann und welche ich ganz ab­geben kann.

Kommen wir zu einer Begriffsklärung. Wie definieren Sie Unternehmens­demokratie?
Das ist etwas kompliziert, da es keine einheitliche Begriffsdefinition gibt und auch vermutlich keine geben wird. Es geht grundsätzlich um eine Demokratisierung einer Organisation, in der gearbeitet wird. Wir schauen uns betriebswirtschaftliche Binnenstrukturen an.

Gibt es hier eine grundsätzliche und strategische Vorgehensweise, damit wir das Thema besser greifen können?
 Ich habe die Aufgabenstellungen in drei Prozessschritten zusammengefasst:

  1. Unternehmensdemokratie ist die Führung und Gestaltung von Organisationen durch alle interessierten Mitglieder, um den jeweiligen Organisationszweck zu verwirklichen.
  2. Sie ist verbindlich verfasste Selbst­organisation, die kein alleiniges Mittel zum Zweck der Gewinnmaximierung ist.
  3. Deshalb achten demokratische Organisationen bei der Erzeugung und dem Vertrieb ihrer Produkte und Dienstleistungen auf das Gemeinwohl aller Stakeholder.

Auf den Punkt gebracht: Es geht um ­einen Prozess, der das Ausmass der Partizipation erhöht und Vermachtungsstrukturen abschleift ?
Genau.

Es geht folglich nicht nur darum, Mitarbeiter am Unternehmen finanziell zu beteiligen?
Nein. Und wir sprechen nicht von einem statischen Zustand. Da bin ich wieder voll bei Ihnen.

Ist das Ganze gesamtwirtschaftlich ­gesehen eigentlich eine Nischenveranstaltung, oder von welchen Dimensionen sprechen wir?
Ich nehme schon wahr, dass es ein Interesse gibt. Das lässt sich beispielsweise an den wachsenden Zuschauerzahlen des Dokumentarfilms «Augenhöhe» ableiten. Das ist ein Filmprojekt, wo es um alternative Formen der Arbeit geht. Da hat es im letzten Jahr um die 600 Vorführungen gegeben. Das ist für solch ein Thema eine beacht­liche Zahl, wenn man bedenkt, dass zu solchen Veranstaltungen zwischen 100 und 200 Besucher kommen. Und da sind dann nicht nur Studenten, sondern auch viele Unternehmensverantwortliche dabei, die an einem solchen Thema arbeiten. Das ist Arbeitszeit. In ihrer Freizeit schauen sie ­sicher andere Filme an. Zudem gibt es ­inzwischen eine ganze Reihe von neuen Büchern auf dem Markt. Ich bin da mit ­meinem Buch kein Solotänzer.

Jetzt sollten wir zu einem praktischen Beispiel kommen. Welche Hürden gibt es, wo werden die zentralen Fehler ­gemacht, und wie entsteht daraus trotzdem eine Erfolgsgeschichte?
Es gibt meist eine historische Bruchsituation. Das kann zum Beispiel eine anstehende Nachfolgeregelung sein. Zunächst kommt man individuell in ein Gespräch. So habe ich mit einem Geschäftsführer, der im Unternehmen des Vaters zunächst nicht die Geschäftsführung übernehmen wollte, erst einmal ein Coaching realisiert. In dem besagten Unternehmen gab es noch den ­Vater als klassischen guten Patriarchen. Das meine ich völlig ohne Ironie. Der hat sich bestens um seine Mitarbeiter gekümmert, aber alles top down reguliert. Da musste jede Quittung, die den Betrag von 50 Euro überschritten hat, über seinen Schreibtisch. Und dann soll der Sohn übernehmen, der hat aber gar keine Lust. Er will kein klassischer Unternehmer werden.

Ja, da entsteht eine knifflige Situation.
Das ist harte Arbeit. Aber es kann zu einem Ergebnis führen, dass das Unternehmen demokratisiert wird, der Sohn beteiligt ist und der Vater sogar noch eine klar definierte Beratungsfunktion ausübt. Jüngere Generationen sind schon durch die neuen Social-Media-Plattformen und ihre Kommunikationskanäle partizipativer aufgestellt.

Dann gilt es sicher, auch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit ins Boot zu holen?
Selbstverständlich. Lassen Sie mich das an Beispielen verdeutlichen, wo es nicht um eine Nachfolgeregelung geht. Zunächst gibt es ganz banale Hürden. Es geht um Grösse. Ich kann bei einem Weltkonzern wie VW keinen gemeinsamen Prozess durch eine Veranstaltung anstossen, bei der alle Betroffenen beteiligt sind.

Da sind wir in der Schweiz mit ihrer KMU-Struktur ja richtig.
Oft bleiben Geschäftsführer auf der strategischen Brücke, wollen sich aber aus dem alltäglichen operativen Geschäft zurück­ziehen. Wir sprechen von einem Betrieb mit 100 Angestellten. Er wünscht sich, dass sein Führungsteam, aber auch die Belegschaft partizipativer agiert. Sie sollen selbst­organisierter arbeiten. Er will tatsächlich auch Rechte abgeben. Das ­bedeutet, dass die Belegschaft die Rechte und damit die Pflichten übernimmt. Da geht man dann in die Belegschaft hinein und erarbeitet mit ihnen Konzepte. Es gibt dabei unterschiedliche technische und methodische Vor­gehensweisen, beispielsweise über eine ­Unternehmenssimulation. Man lässt die Leute praktische Erfahrungen mit flachen Unternehmenshierarchien machen. Wichtig dabei ist die gemeinsame Erfahrung. Sie dürfen sich nicht lange mit den früheren Führungskräften in irgendwelchen Workshops auseinandersetzen, sondern am ­Anfang müssen alle an einen Tisch oder in einen Raum. Das ist schon ein erstes wichtiges Symbol. Später kann man dann in unterschiedliche Arbeitsgruppen wieder auseinander gehen. Es geht darum, ganz egalitär allen die gleichen Erfahrungen zu ermöglichen. Zudem geht es um eine ­demokratische Problemdefinition.

Das klingt ziemlich verschraubt und für mich nach pädagogischem Stuhlkreis.
Ja, aber sie ist nachhaltig wirksam. Wenn Sie als mein Chef glauben, wir haben das Problem A, ich aber vor allem das Problem B sehe, dann halte ich ihre Problemlösungsansätze logischerweise für wenig hilfreich. Ich als Servicemitarbeiter sehe möglicherweise ganz andere Probleme als Sie aus der Teppichetage.

Da können Welten aufeinandertreffen?
Allerdings. Genau daher sollte man dann in Querschnittsteams eine multifaktorielle Perspektive bekommen. So ist man nachhaltigen Lösungen viel näher als früher.

Am Ende des Tages steht dann die Frage: Wird das Unternehmen produktiver, oder vertrödelt man sich in langen Diskussionen?
Es muss dazu führen, dass mindestens das Niveau gehalten wird. Solche Modelle überzeugen nur, wenn das Unternehmen wirklich produktiver wird. Dafür liegen Konzepte auf dem Tisch. Oft wird nach ersten Versuchen auch alles viel langsamer. Das liegt aber nicht an flachen Hierarchien, sondern am schlechten Entscheidungsdesign. Welche Methoden verwenden die Akteure, um Entscheidungen herbeizuführen? Das ist oft eine zentrale Hürde. Es geht um neue Arten der Entscheidungsvorbereitung und Entscheidungsfindung.

Zum Weiterlesen
Unternehmensdemokratie? Wo kämen wir denn da hin? Unternehmen sind doch keine demokratische Veranstaltung, denn wenn alle mitmischen, dauern Entscheidungen zu lange. Und überhaupt: Weder wollen noch können Mitarbeiter Verantwortung übernehmen. Basta!

Irrtum. Andreas Zeuch widerlegt anhand exklusiv recherchierter, ausführlicher Fallbeispiele die Argumente gegen Unternehmensdemokratie. Denn es gibt sie längst, die Unternehmen, die teils seit Jahrzehnten nicht trotz, sondern aufgrund ihrer Demokratie überaus erfolgreich wirtschaften.

Weitere Informationen:
www.unternehmensdemokraten.de