Das Thema KI und China ist ein ökonomisches Erfolgsgespann.

Die ökonomische Entwicklung Chinas in den letzten Jahren ist mehr als beeindruckend. China ist schon lange nicht mehr nur die verlängerte Werkbank der klassischen europäischen Player und der USA. In einigen Branchen gehört China inzwischen zur wirtschaftlichen Weltspitze. Das Vorgehen erinnert an einen Masterplan, der China in wenigen Jahren auf eine hegemoniale Führungsrolle in der Welt vorbereiten soll. Jetzt wird ein neuer Anlauf dazu unternommen. Im Rahmen der Schlüsseltechnologien rund um die Künstliche Intelligenz (KI) setzt China zu einem neuen grossen Sprung an. Jetzt ist dazu ein Buch von Claudia Bünte auf den Markt gekommen.

Unsere Bilder zu China waren schon immer von Vorurteilen geprägt. Wir sehen Bilder von Opiumkriegen und untergehenden Kaiserreichen, von den massenhaft günstigen Arbeitskräften, die im 19. Jahrhundert den Bau der US-Eisenbahnlinien mit ermöglichten. Um 1900 prägte die berüchtigte «Hunnenrede» des deutschen Kaisers, um den sogenannten «Boxeraufstand» niederzuschlagen, die Bilder von mehreren Generationen in Europa. Im Kalten Krieg wurden diese Massen zu Bedrohungsszenarien verdichtet. Dann,
Mitte des 20. Jahrhunderts nach dem Ableben von Mao, war China die verlängerte Werkbank für die restliche Welt. Anfang dieses Jahrhunderts klauten uns die Chinesen die Technologien und Patente. Wenn es um neue ökonomische Konzepte, im Rahmen der vierten Industriellen Revolution ging, schauten und schauen wir nach Kalifornien und nicht nach China. Das ist ein Fehler. Wer in den beiden letzten Dekaden in der Solarbranche tätig war, kann davon ein Lied singen. Mit unglaublicher strategischer Wucht, technologisch beeindruckenden Lösungen und staatlichen Subventionen, gingen die chinesischen Akteure voran. Sie ermöglichten ein kaum schlagbares Preis- Leistungs-Angebot. So zerschlugen
die chinesischen Player die die Ambitionen der europäischen Anbieter. Inzwischen haben sie weltweit einige Oligopole errichtet. Weltweit steht die Automobilbranche vor drastischen Umbrüchen. Und wieder schauen wir nur auf Elon Musk. Hand aufs Herz: Wer kennt Namen der bedeutenden chinesischen Anbieter im Rahmen der E-Mobilität? Wenn wir darauf warten, sie erst kennenzulernen, wenn Toyota oder Volkswagen ihre führenden Weltmarktpositionen verlieren, könnte es zu spät sein. Auch in den geostrategischen
Handlungskonzepten ist China in einer Spitzenposition. Für viele europäische Unternehmensverantwortliche und die Politik ist ganz Afrika ein einziges Katastrophenszenario. Chinesische Akteure haben das entstandene Vakuum beeindruckend
gefüllt.

Nüchterne Betrachtungen
An solchen Bruchpunkten und Zerrbildern setzt das Buch «Die chinesische KI-Revolution.
Konsumverhalten, Marketing und Handel: Wie China mit Künstlicher Intelligenz die Wirtschaftswelt verändert» von Claudia Bünte an. Sie wirft mehr als ein Schlaglicht auf die aktuelle Entwicklung im Reich der Mitte. Die Autorin ist Professorin für International Business Administration an der SRH Berlin, University of Applied Sciences, und ausgewiesene Fachfrau im internationalen Marketing mit profunder China-Erfahrung. Schon im Vorwort ihres neuen Buches plädiert sie daher für eine nüchterne Betrachtungsweise. Die Haltung «Wir sind überlegen» ist für die Autorin ein völlig falsches und gefährliches Bild. Sie empfiehlt demgegenüber den nüchternen und lernenden Blick. «Lassen wir
uns darauf ein, uns unterschiedliche kulturelle, wirtschaftliche und technische Ansätze
offen anzusehen.»

Nun ist das Thema KI nicht erst seit gestern auf der Agenda. In den Fünfzigerjahren des 20. Jahrhunderts, als die Moderne mit ihren technologischen Euphorieschüben, in voller Blüte stand, träumte man schon von den Potenzialen der KI. Man hatte aber noch nicht die Technologien, um für die Praxis spannende Alltagsangebote auf den Markt bringen zu können. In den Siebzigerjahren verschwand KI von der Agenda. Das Thema versank in einer Art Dornröschenschlaf. Jetzt mit sehr viel leistungsfähiger Hard- und Software ist es
wieder da. «Eine KI kann mit unstrukturierten Daten besser und schneller Muster erkennen
und Insights generieren als ein Mensch», führt die Autorin Claudia Bünte wie versprochen nüchtern aus.

Fehlendes Wissen
Dabei hat sich China, und das belegen die Zahlen, eine Spitzenposition erarbeitet. «China investiert massiv in KI und ist dabei, sich damit eine beeindruckende Führungsrolle in der weltweiten Wirtschaft zu erarbeiten », so Claudia Bünte. «Firmen, die sich auf die Zukunft vorbereiten wollen, müssen nach China schauen. Auf meinen zahlreichen Reisen habe ich deutlich erfahren, dass wir `Westler´ Asien kolossal unterschätzen. » Bereits 2010 verantwortete Claudia Bünte für ihren damaligen Arbeitgeber Volkswagen in China ein
wichtiges Projekt. Dabei fiel ihr auf, wie weit das Land bereits wirtschaftlich auf die digitale Transformation ausgerichtet war und wie wenig man im Westen davon wusste. Viele  Experten gehen davon aus, dass China in den nächsten Jahren die USA als führende Wirtschaftsmacht überholt. «Die Entwicklung von KI verläuft nicht linear, sondern in einer S-Kurve», weiss Claudia Bünte. «Es wird massiver und schneller vorangehen, als sich viele von uns vorstellen. KI wird die treibende Kraft für Firmen und Staaten im 21. Jahrhundert
sein. Und China wird diese Entwicklung führen – denn China verfügt mit 1.4 Milliarden Menschen über die grösste Bevölkerung der Erde. 800 Millionen Menschen davon leben  «mobile online», organisieren also ihren kompletten Alltag über das Smartphone und produzieren Unmengen an unstrukturierten Daten. Dabei ist es von Vorteil, alte technologische Lösungen, die bei uns noch sehr wirkungsmächtig sind, überspringen zu können. Das betrifft zum Beispiel die klassische Kreditkarte oder das Festnetztelefon.
Da hält man sich in China nicht lange auf. «Alleine der fast unbegenzte Zugang zu einem der grössten Datenpools der Welt» katapultiert China laut Bünte in eine Spitzenposition.  Kein Datenschutzbeauftragter hebt seine mahnende Hand. Eine kombinierte Analyse der Daten ist fast unbegrenzt möglich. «Damit kann China bessere und schnellere KI-Algorithmen entwickeln als andere Länder.»

Auf Augenhöhe
In China kommen, so betont Claudia Bünte, drei Faktoren zusammen, die es braucht, um auf dem Sektor der KI führend zu werden: «KI-Technologie und Fachpersonal, grosse Mengen miteinander verknüpfter Daten und ein genügend hohes Budget, um daraus Neues zu entwickeln.» Der Blick in die Praxis belegt diese These. Die chinesischen «Big Three», sprich Baidu, Alibaba und Tencent, agieren inzwischen auf Augenhöhe mit den «Big Four» der westlichen Welt, Google, Apple, Facebook und Amazon. Abschliessend fasst Claudia Bünte zusammen: «Es wird für uns im Westen wichtig werden, ob und wie der sprichwörtliche Sack Reis in China umfällt.»

Kommen wir abschliessend nochmals zu den Bildern zurück. Inzwischen ist es so, dass man bei manchen Aussenwirtschaftstreffen fast schon ehrfürchtig vor der chinesischen Entwicklung erstarrt. «Ich lasse meine Kinder alle die chinesische Sprache erlernen» ist schon lange keine exotische Aussage mehr. Wir sollten aber aufpassen, dass nach den negativen Zerrbildern keine bunten genauso unrealistischen Euphoriebildern sich entwickeln. Zudem hat das chinesische Modell seine Schattenseiten, wie die Niederschlagung der Demokratiebewegung in Hongkong verdeutlicht hat.

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