Tomáš Sedláček, Sie haben sich lange mit Gier als Triebkraft des ökonomischen Wachstums befasst. Was haben Sie dabei über uns Menschen gelernt?

Beim Schreiben des Buches habe ich erfahren, dass Gier tatsächlich ein zeitloses Thema ist. Die Unzufriedenheit mit dem, was wir haben, ist einer der ältesten Dämonen der Menschheit. Das zeigt sich schon bei Adam und Eva im Paradies: Entgegen unserer gängigen Interpretation geht es im Zusammenhang mit der Erbsünde nicht um die sexuelle Verführung, stattdessen steht in der Genesis 14-mal das Wort «Konsum». Die Verführung zur Sünde kommt mit dem Überfluss. Im Paradies gab es alles. Adam und Eva bissen nicht aus Hunger in den Apfel, sondern weil sie übersättigt waren; sie waren unzufrieden und wollten noch mehr haben. Der Fluch war schon immer: Weil ich dir nicht genug gab, weil du mehr wolltest, wird nichts jemals genug sein.

Das heisst: Bei übersteigerten Konsumansprüchen wird die ständige Unzufriedenheit quasi zum Naturphänomen. Nicht einmal die Vollkommenheit des Paradieses reicht aus, sie zu befriedigen…

…und Hoffnung ist nicht in Sicht. Sogar mit der Technik des 21. Jahrhunderts würde Adam seiner Eva nie geben können, was sie begehrt. Und weil unser Begehren uns kontrolliert, tappen wir alle wieder und wieder in dieselbe Konsum-Falle. Aber es kommt der Punkt, wo alle bereits drei Autos und zwei iPads besitzen und noch mehr Wachstum einfach keinen Sinn mehr macht. Ich frage mich, warum ein ausbleibendes Wirtschaftswachstum immer als Problem angesehen wird: Wir leben doch fast wie im Paradies und sollten auf den Dächern tanzen und «Halleluja» singen. Was soll denn noch besser werden? Hat das Wirtschaftswachstum stets eine Bedeutung  oder ist es schlicht zum Selbstzweck geworden – Wachstum um des Wachstums willen? Uns quält, dass Zufriedenheit mit dem, was wir bereits haben, unerwünscht scheint.

Was wäre Ökonomie ohne Gier? Bereits Adam Smith untersuchte deren Auswirkungen auf den Wohlstand der Nationen.

Gegenfrage: Ist ein gieriges Leben ein gutes Leben? Wollen wir das? – Die Antwort, denke ich, ergibt sich von selbst. Ich halte mich an Aristoteles: Ökonomie sollte die Wissenschaft vom Glück sein. Und ein glückliches Leben ist nach Aristoteles ein zufriedenes Leben. Das Materielle kann dabei durchaus eine Rolle spielen, aber es ist nur eine von vielen Quellen von Glück und Zufriedenheit. Daher rufe ich dazu auf, uns unserer eigenen Sattheit bewusst zu werden. Die Resonanz auf mein Buch scheint mir zu belegen, dass der Zeitgeist dreht.

Der Anspruch von «Die Ökonomie von Gut und Böse» ist es ja, unser wirtschaftliches Denken auf neue Grundlagen zu stellen. Woher schöpfen Sie die Hoffnung, dass dies möglich ist, ohne dass sich das Menschenbild der Ökonomen ändert?

Sogar Banker würden heute der These zustimmen, dass wir gewisse Fragen fundamental falsch angegangen sind. Und dass wir uns dafür schämen sollten, diese Fehler zu wiederholen. Daher bin ich in dieser Zeit gerne ein Ökonom: Unsere Disziplin steckt aus guten Gründen in einem Selbstfindungsprozess, so entsteht bei uns verglichen mit anderen Wissenschaften viel Neues. Doch unsere Theorie-Kathedralen sind aus Zuckerguss gebaut; sie schmelzen, wenn sich das Klima ändert.

Sie spielen auf die Dominanz der mathematischen Modelle an.

Ja, wir halten uns viel zu sehr an mathematischen Ergebnissen fest. Das ist in Krisenzeiten fatal, in denen wir ja nicht einmal die Zinssätze korrekt berechnen können – sonst wäre das griechische Staatsschuldensystem «business as usual». Zahlen sind der Körper der Ökonomie, wir sollten uns aber auf die Suche nach der Seele machen und der Frage nachgehen, ob sich die Ökonomie so verhält, wie wir Menschen es wollen. Ökonomie ist kein Fetisch, sondern ein Werkzeug – nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum Ziel.

Die Ökonomie verändert sich, aber der Mensch bleibt gleich?

Ich glaube, dass das Eingreifen auf systemischer Ebene erfolgen muss.

Wie beurteilen Sie die Effekte der Finanzmarktkrise?

Diese Krise war eine letzte Warnung. Sie hat uns nicht zerstört und auch keine Revolution ausgelöst. Aber heute stimmen wohl alle Experten darin überein, dass unser Wirtschaftssystem nicht nachhaltig funktioniert. Nicht nur die Ökologie kommt zu kurz: Wir haben das enorme Wachstum auf Kosten der Stabilität produziert. Die Eigenlogik des Systems hat offensichtlich einen Kurzschluss erzeugt: Es ist ein klarer Irrtum, dass die Märkte sich selber regulieren. Wenn die Krise heute aufhört und wir wieder zum Alltag zurückkehren, dann wird uns die nächste Krise zerstören.

Also muss der Regulator eingreifen.

Wir sollten die Gesetze ändern. Am liebsten wäre es mir, wenn die Banker selber Regulierungsvorschläge machen würden – und wenn die nicht wirken, werden wir innert zwei Jahren die nötigen Massnahmen treffen. Man ist auf verschiedenen Ebenen auf der Suche, darum bin ich auch ein gefragter Redner in Banken- und Regierungskreisen.

Etwas ganz anderes wäre ein Schuldenerlass.

Tatsächlich gab es in der Welt des Alten Testaments alle 49 Jahre einen vollständigen Schuldenerlass. Alle Besitzrechte wurden wieder an die ursprünglichen Besitzer zurückgegeben; alle Schuldsklaven wurden freigelassen. Heute haben wir das Mantra «Du sollst deine Schulden zurückzahlen» verinnerlicht, Systemneustarts finden nur noch am Computer statt. Und doch wäre es interessant, darüber nachzudenken, was passieren würde, wenn alle privaten Schulden erlassen würden.

David Graeber hat dazu ein spannendes Buch geschrieben: «Schulden – die ersten 5000 Jahre». Er zeigt darin, dass die Tilgung aller Schulden in der Menschheitsgeschichte stets ein treuer Begleiter von Revolutionen war. Sein Konzept des Systemneustarts sieht also radikale Schnitte vor. Wäre das für Sie ein gangbarer Weg?

Graebers Buch ist wunderbar – und wir bereiten gerade eine gemeinsame Publikation vor. Aber in diesem Punkt sind wir uns uneins: Ich glaube nicht an Revolutionen, sie führen nie zu gesunden Lösungen. Ich habe als Berater von Václav Havel die «velvet revolution» in der ehemaligen Tschechoslowakei  mitgestaltet und würde heute alles tun, um eine echte Revolution zu verhindern. Gerät mein Auto ins Schlingern, mache ich extreme Bremsmanöver, um nicht gegen die Wand zu fahren, aber ich würde nicht rausspringen. Ich glaube an die Reformfähigkeit des Kapitalismus – vielleicht bin ich darin auch naiv. Aber wünschen wir uns nicht alle einfach einen «Kapitalismus mit menschlichem Antlitz»? Sogar Slavoj Žižek…

…der zurzeit wohl berühmteste Kapitalismuskritiker…

…muss zugegeben, dass wir kein Modell für die Zukunft haben. Und David Graeber hat auch keines.

Was ist eigentlich so schlecht an der Mainstream-Ökonomie? Dieses Denken hat einen weltweiten Triumphzug hinter sich und durchdringt heute jeden Bereich unseres Lebens.

Das Problem der Ökonomen ist, dass sie vorgeben, Wissenschaftler zu sein, dabei praktizieren sie eine verkleidete Religion. Es gibt heute ein Zuviel der Ökonomie und es fehlen Bereiche, die unökonomisch funktionieren. Bereiche wie Freundschaften, Ästhetik, frische Luft und Liebe. Wir können uns ein Leben und Wachstum ausserhalb der Ökonomie schon gar nicht mehr vorstellen. Dabei stimmt es einfach nicht, dass man nur den Preis einer Sache kennen muss. Es gibt einen grossen Unterschied zwischen dem Preis und dem Wert einer Sache – oder wie Oscar Wilde sagte: «Ein Zyniker ist ein Mensch, der von allem den Preis und von nichts den Wert kennt.» Wer sich zu sehr in die eigene Schöpfung verliebt, riskiert sein Leben – das Problem teilt die moderne Ökonomie mit Gott, der sich auch umbringen musste, als die Sache mit dem Menschen schiefging.

Im Unterschied zu Graeber und Žižek sehen Sie aber doch Chancen für einen Reformprozess.

Wir haben allen Grund, dem Kapitalismus dankbar zu sein. Aber vielleicht ist es so, dass der Kapitalismus sein Versprechen schon eingelöst hat. Heute erwarten wir vom Kapitalismus Gerechtigkeit und inneren Frieden – dazu wurde das Konzept aber nie entwickelt. Die Ökonomie sollte uns wohlhabend machen und verhindern, dass wir jeden Tag acht Stunden nach Essen suchen müssen. Dieses Ziel ist erreicht. Vielleicht müssen wir zwischen der Ökonomie und den Ökonomen unterscheiden: Es ist für die Eltern eines Säuglings schwierig festzustellen, ob ein Kinderarzt gut ist. Das sieht man nur, wenn das Kind krank wird. Dann gibt es drei Optionen: Erstens der Doktor ist gut und weiss, was er macht. Und er tut es. Zweitens: Der Doktor weiss nicht, was er tut, gibt das zu und und holt Rat. Beide Optionen sind nicht schlecht. Fatal ist die dritte Option: Wenn der Doktor nicht weiss, was er tut, und es trotzdem tut. So ging es in der Folge der Globalisierung den Ökonomen mit der Ökonomie. Niemand weiss, ob die ökonomischen Modellbildungen die Entwicklung korrekt abbilden, nur gibt es dazu praktisch keine Alternativen. Mit der Demokratie verhält es sich ähnlich: Wir sollten sie verbessern. Sie ist nicht nur eine Reihe von Gesetzen, wir müssen sie hegen und pflegen.

Quelle
Erstveröffentlichung in Migros-Kulturprozent-Magazin,
6.2.2013. Vgl. das ganze Gespräch auf www.migros-kulturprozent.ch
«Die Eigenlogik des Systems hat offensichtlich einen Kurzschluss erzeugt.»