Dr. Peter Grünenfelder ist Direktor bei Avenir Suisse.

Die noch stärkere Integration in den EU-Binnenmarkt seit der Jahrtausendwende hat sich als Wohlstandstreiber erwiesen. Weder Abschottung noch Abgrenzung sind zukunftsfähige Strategien für eine nachhaltige Wohlstandssicherung.

Nun hat der Bundesrat am 26. Mai 2021 den Verhandlungstisch rund um das InstA (Institutionelle Abkommen Schweiz-EU) verlassen – ohne Plan B. Man möchte am Status quo der Bilateralen festhalten. Doch der EU-Binnenmarkt entwickelt sich weiter. Bereits drei Monate nach Verhandlungsabbruch sind erhebliche bilaterale Störungen eingetreten. Der vom Bundesrat anvisierte politische Dialog mit Brüssel hat sich bislang als wirkungslos erwiesen. Um den Bilateralismus nicht weiter erodieren zu lassen, tut eine Lösung in fünf Schritten Not.

Erstens muss sich die Schweiz über ihr Souveränitätsverständnis im Klaren sein. Nicht wenige hierzulande möchten die für sie geltenden Regeln des Zugangs zum europäischen Binnenmarkt selbst aufstellen. Das Spannungsverhältnis zwischen dem Ziel der profitablen Teilhabe und der als absolut verstandenen Souveränität entsteht dadurch, dass die Binnenmarktregeln in den politischen Organen der EU festgelegt werden, in denen die Schweiz nicht mitentscheiden (sondern allenfalls punktuell mitsprechen) kann. Die logische Konsequenz dieser Konstellation ist eine eingeschränkte Souveränität bei der Setzung der Regeln im EU-Binnenmarkt. Die Suppe wird auch hier politisch heisser gekocht als gegessen: Die Stimmbevölkerung zeigt sich bei bilateralen Vorlagen regelmässig pragmatisch.

Zweitens soll – statt der laufenden Erosion – der bilaterale Weg vertieft werden. Will die wirtschaftliche Schweiz weiterhin erfolgreich am EU-Binnenmarkt partizipieren, dann muss die politische Schweiz an dessen zukünftiger Ausgestaltung durch ein aufdatiertes Abkommen mitwirken. Dazu braucht es «Bilaterale plus» und ein transparentes Streitbeilegungsverfahren – ersteres für neue Marktzugangsabkommen, zweiteres zur Schaffung von Rechtssicherheit für Schweizer Unternehmen, um sich erfolgreich gegen eine Nadelstichpolitik der EU wehren zu können (was mit dem heutigen Vertragswerk quasi ausgeschlossen ist).

Drittens sollte in der Politik weniger das europapolitisch Trennende, sondern die gemeinsame europapolitische Schnittmenge im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Zu oft haben die grossen Parteien rund um das InstA in den vergangenen zwei Jahren die Differenzen untereinander akzentuiert. Gerade das bürgerlich-liberale Lager, Wirtschaftsverbände und Gewerbekreise, die politischen Kräfte der Mitte zusammen mit den fortschrittlichen Kräften der Sozialdemokratie sind gefordert, die europapolitischen Gräben wieder zuzuschütten und in einem gemeinsamen Effort mehrheitsfähige Lösungen zu entwickeln. Der europapolitische Pragmatismus des Souveräns kann dabei als Leitlinie gelten.

Viertens ist die Öffnung des eigenen Binnenmarkts voranzutreiben – dies vorab durch die unilaterale Abschaffung der Zölle. Industriegüterimporte tragen 41 Prozent zu den gesamten Zolleinnahmen bei, ein Abbau würde zu einem Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts von fast einer Milliarde Franken führen. Der Zollsatz bei Agrargütern von 30,4 Prozent ist weltweit ein Spitzenwert für Protektion. Ein Abbau würde das Preisniveau für Lebensmittel senken und den inländischen Wettbewerb im Detailhandel intensivieren. Die Öffnung des Binnenmarkts verlangt auch, der um sich greifenden Ausweitung der Geschäftsaktivitäten von Staatsbetrieben resolut Einhalt zu gebieten.

Schliesslich sollte fünftens das Potenzial des Aussenhandels konsequenter ausgeschöpft werden – vorab mit dem Abschluss neuer Freihandelsabkommen mit den USA und den Mercosur-Ländern. Doch dazu gehört auch die verbesserte Nutzung bestehender Freihandelsabkommen durch Massnahmen zur administrativen Reduktion der Import- und Exportanforderungen.

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