Digitalisierung ist für unser Gehirn keine einfache Angelegenheit.

Ob selbstverständliche Standards oder neue Angebote – wie wir sie gerade alle erleben – zu virtuellem Teamwork oder digital classroms: Was macht das mit unserem Gehirn? Stichworte wie «digitale Demenz» machen die Runde. Angeblich ist unsere Konzentrationsspanne geringer als die eines Goldfischs.

Das Rad zurückdrehen möchte niemand. Was bleibt, sind allerdings wichtige Fragen: «Wie gehen wir am besten mit der Digitalisierung um, damit wir davon profitieren können?» und «Gibt es die Möglichkeit, nicht trotz, sondern durch digitale Tools schneller, konzentrierter – und ausgeglichener im Sinne der Work-Life-Balance – zu sein?» Dieser Beitrag soll den Einfluss der Digitalisierung auf das Gehirn – aus neurowissenschaftlicher Sicht – beleuchten.

Früher war alles …
Erinnern Sie sich noch an die ausufernden Urlaubserzählungen von Freunden mit Dias? Bei dem ausufernden Vortrag von Onkel Kurt aus seinem Urlaub Kärnten mit über 250 Bildern sind wir als Kinder immer eingeschlafen. Die Dias, die man als Vorbereitung mühsam eingerahmt hat und die rettungslos durcheinander waren, wenn die Box einmal runtergefallen ist. Gut für den, der die Dias vorher durchnummeriert hatte. Heutzutage ist das nicht mehr vorstellbar – wir sind im Zeitalter der Digitalisierung angekommen.

Und dann kam die Digitalisierung
In der einfachsten Definition bedeutet Digitalisierung die Umwandlung von analogen
Werten in digitale Formate, also vom schönen bunten Dia zu Nullen und Einsen. Das Diapositiv oder Fotonegativ als Bild auf unserem Smartphone – beliebig zu bearbeiten, zu kopieren und zu verschicken. Tonbandaufnahme und Schallplatte geniessen wir in digitaler Form als MP3Format auf unseren mobilen Geräten, von welchen wir sie jederzeit und überall abhören können.

Der Übergang von der analogen in die digitale Welt ging rasant vor sich. 1969 war die Geburtsstunde des Internets, 2003 gilt schon als Startpunkt des digitalen Zeitalters. Damals gab es geschätzt bereits mehr Daten im digitalen als im analogen Format. Schliesslich Google, der Touchscreen am iPhone, Messenger-Dienste wie WhatsApp und jetzt autonom fahrende Autos, 3-D-Druck und Alexa. Die Digitalisierung macht vor keinem Lebensbereich halt. Kurz gesagt: Die digitalen Vorzüge haben die allermeisten von uns schon längst in ihr Leben integriert. Ob Basics wie Telefonspeicher, Navi oder Kalender im Smartphone – das Leben ist in diesem Sinne bequemer geworden. Wir müssen uns nichts mehr merken, weil wir alles ständig dabei und griffbereit haben.

Gehirn-Basics
Kann unser Gehirn als circa zwei Millionen Jahre altes, analoges Steinzeitgebilde überhaupt mit der Digitalisierung zurechtkommen? Dazu ist es wichtig, einige Basics über das Gehirn zu kennen: Prinzipiell ist unser Gehirn extrem wandelbar und anpassungsfähig. Es ist zu grandiosen Leistungen fähig, wenn es richtig benutzt wird. Wichtig dafür ist erst einmal die Grundversorgung: Die richtigen Nährstoffe und genügend Flüssigkeit. Ausreichend Getränke, über den Tag verteilt und eine ausgewogene Ernährung stellen die wichtige Basis für einen konzentrierten und fokussierten digitalen Alltag dar.

Wenn unser Gehirn gut funktioniert, schüttet es Botenstoffe und Hormone in den richtigen Massen aus, um uns am Leben zu erhalten und uns mit unserer Umwelt interagieren zu lassen. So sorgt zum Beispiel Serotonin dafür, dass wir uns wohlfühlen und guter Stimmung sind. Wenn wir ins Tun kommen wollen, brauchen wir Dopamin, dessen Ausschüttung unter anderem durch körperliche Bewegung angeregt wird. Glückshormone, sogenannte Opioide, schütten wir aus, wenn wir ein Ziel erreicht haben. Diese sind allerdings sehr kurzlebig, die Wirkung verpufft rasch. Dann brauchen wir wieder Dopamin, um ein neues Vorhaben anzugehen. Allerdings speichert unser Gedächtnis die Erinnerung an die schönen Gefühle der Glückshormone, weshalb wir immer wieder danach streben.

Ein wichtiger Faktor für die Leistungsfähigkeit unseres Gehirns ist der Stresslevel, dem wir unterliegen. Mässiger Stress macht uns konzentriert und aufmerksam. Wenn der Stress hingegen zu viel wird, werden wir vergesslich und unkonzentriert. Sehr starker Stress über lange Zeit schädigt gar das Gehirn. Wobei «starker Stress» und «lange Zeit» extrem unterschiedlich ausfallen – manches Gehirn steckt jahrelangen extremen Stress gut weg, wogegen andere Gehirne und deren Besitzer nach wenigen Wochen direkt auf den Burnout zugehen. Wer auf sich selbst und die Signale hört, die ihm sein Körper und damit sein Gehirn sendet, kann meist ganz gut einschätzen, was zu viel ist und wie viel Stress er noch ohne Schaden aushält.

Unser Gedächtnis schliesslich arbeitet umso besser, je mehr wir es nutzen. Es ist allerdings schnell überlastet. Die meisten Eindrücke des Tages nehmen wir gar nicht bewusst wahr, nur ein Bruchteil schafft es in unser Bewusstsein. Dann müssen noch viele Faktoren stimmen, damit wir Fakten langfristig abspeichern. Das sind zum Beispiel neben dem schon genannten richtigen Hormoncocktail und mässigem Stresslevel auch Interesse, vorhandenes Wissen sowie die richtige Dosis an Informationen, die unser Gedächtnis aufnehmen soll.

Die frage nach der Kombination
Wie bekommen wir jetzt die Digitalisierung und unser Steinzeithirn zusammen? Kann das funktionieren? Die Antwort gleich vorneweg: Ja, es kann funktionieren. Wenn wir erst unser Gehirn einschalten und dann unsere digitale Welt betreten.

Grenzen im Kopf
In den letzten Monaten fand eine digitale Disruption ohnegleichen statt. Was nie für möglich gehalten wurde, war plötzlich Wirklichkeit: Fast alle Büroarbeitsplätze und noch mehr wurden digital. Geschäftsreisen wurden abgesagt und remote erledigt, Schule geht plötzlich digital und sogar Dinge wie Whiskey-Tastings oder kulinarische Abende haben kreative Köpfe mithilfe der analogen Zusendung der Nahrungsmittel im weiteren Verlauf ins Netz verlegt.

Die Grenzen des Home Office finden ihren Ausdruck in dem neu entstandenen Begriff «Zoom-Fatigue», sprich, «Zoom-Müdigkeit». Das beschreibt die Tatsache, dass wir Webmeetings als extrem ermüdend empfinden. Doch wo genau liegt das Problem? Es liegt darin, dass unser Gehirn in «normaler, analoger» Kommunikation aus der Körpersprache des Gegenübers Informationen sammelt und wir deshalb in einer bestimmten Art und Weise reagieren. Online sehen wir maximal den Oberkörper oder oft nur den Kopf unserer Gesprächspartner. Hände sind nicht zu sehen. Wir hören den Atem nicht, wenn der andere Luft holt, um uns beispielsweise zu unterbrechen. Wir sehen die Augen schlecht, können die Mikromimik, ganz kleine Muskelbewegungen in unserem Gesicht, nicht erkennen. Diese Bewegungen machen den Unterschied, ob wir ein Lächeln als echtes Lächeln erkennen oder ob es auf uns «falsch» wirkt. Unser Gehirn versucht während eines Online-Meetings die ganze Zeit, diese nonverbalen Signale zu erkennen – ohne Erfolg. Dafür verbraucht es ziemlich viel Energie. Und das macht müde. Für eher introvertierte oder schüchterne Menschen ist es in Online-Meetings zudem schwierig, sich zu Wort zu melden, weil die gesamte Aufmerksamkeit auf den Sprecher gerichtet ist.

Ein wichtiger Faktor im Home Office ist die Tatsache, dass wir zumeist nicht allein sind. Ob Partner oder zu betreuende Kinder – auch bei optimaler Selbstbeschäftigung und grosszügiger Wohnsituation können wir niemals unsere ganze Konzentration auf das, was vor uns liegt, fokussieren. Unbewusst ist ein Teil unseres Gehirns immer im Alarm-Modus, um sofort auf volle Aufmerksamkeit umzuschalten, sollten unerwünschte Geräusche aus dem Kinderzimmer kommen. All das bedeutet für unser Gehirn: Stress. Statt Kuschelhormone wie Oxytocin auszuschütten, wenn wir uns beim analogen Meeting die Hand geben oder umarmen, sind die Stresshormone Adrenalin und Noradrenalin angesagt. Statt im kurzen Smalltalk vor dem Meeting die Atmosphäre und Stimmung der Kolleginnen und Kollegen auszuloten, versucht unser Gehirn, neben der Konzentration auf das Inhaltliche, alle Teilnehmer im Blick zu haben. Und das, obwohl wir am Bildschirm bestenfalls kleine Kacheln von einigen wenigen Anwesenden sehen. Und so wissen wir auch nach einem langen virtuellen Meeting immer noch nicht, wie es ihnen geht und ob wir unterstützen sollten oder selbst auf Unterstützung hoffen können.

«Effizientes» Multitasking
Vielleicht haben Sie sich oder Ihre Angehörige auch schon bei einem relativ neuen Phänomen ertappt: beim Hantieren mit dem «second screen». Wenn wir zum Beispiel fernsehen, haben viele nebenher noch ihr Smartphone in der Hand. Wenn Sie an einem Webmeeting teilnehmen, werden Sie sehr wahrscheinlich ab und zu wenigstens kurz Ihre E-Mails oder Ihr WhatsApp – oder beides – checken. Ihnen gibt das das Gefühl, effizient zu sein. Für Ihr Gehirn heisst das jedoch: Multitasking. Und das funktioniert nicht. Wenn wir konzentriert und effizient arbeiten wollen, dann geht das nur an einer einzigen Aufgabe. Sobald eine andere dazukommt, sind wir nicht mehr aufmerksam bei der Sache. Das merken Sie spätestens dann, wenn Sie die E-Mail, die Sie während eines Telefongesprächs geschrieben haben, noch einmal senden müssen, weil Sie den Anhang vergessen haben oder im Datum ein Zahlendreher ist. Gehirngerecht arbeiten bedeutet: eine Aufgabe nach der anderen erledigen, nicht gleichzeitig.

Das Smartphone ist ein Quell der Ablenkung. Vermutlich haben auch Sie Ihr Handy meist auf dem Schreibtisch liegen. Stumm geschaltet zwar, aber sichtbar. Problematisch ist das deswegen, weil Ihr Unterbewusstsein ständig einen Teil seiner Aufmerksamkeit auf das Smartphone gelenkt hat: Es könnte ja sein, dass eine Nachricht gekommen ist. Studien belegen diese Ablenkung. Dagegen hilft, das Smartphone komplett auszuschalten und so wegzulegen, dass Sie es nicht mehr sehen können.

Schwindende Merkfähigkeit
Ein grosser Vorteil an der Digitalisierung und dem Internet ist, dass das Wissen dieser Welt ständig und in früher nie vorstellbarem Ausmass zur Verfügung steht. Wir müssen buchstäblich einfach nur googeln. Der Effekt ist – und auch das ist durch Studien bewiesen –, dass wir uns viel weniger merken. Während wir früher auf der Suche nach einer Antwort ans Bücherregal zum Brockhaus gegangen sind und dort nachgeschlagen haben, schauen wir jetzt kurz ins Internet. Weil dieser ausgelagerte Teil unseres Gedächtnisses immer verfügbar ist, machen wir uns nicht mehr die Mühe, uns etwas zu merken.

Doch das ist fatal. Denn wer nichts weiss, der kann keine Entscheidungen treffen. Der
muss sich auf sein Umfeld verlassen, dass es ihm die «richtige» Entscheidung vorgibt. Der kann keine Fake-News erkennen. Der sieht nicht mehr, dass eine Nachricht gar nicht stimmen kann. Der kann mit den Informationen aus dem Internet nicht umgehen, weil er eine seriöse nicht von einer unseriösen Quelle unterscheiden kann.

Hier hilft dem Gehirn folgende Vorgabe: Denken Sie bewusst nach, bevor Sie googeln. Sie werden sich an das eine oder andere erinnern, wenn Sie Ihrem Gedächtnis nur die Chance dazu geben. Sprechen Sie miteinander, vielleicht finden Sie gemeinsam die richtige Antwort heraus.

Kleines Fazit
Digitalisierung hat uns viel Segensreiches gebracht, die Welt ohne sie wäre sicherlich ärmer. Nutzen wir einfach beides: die faszinierende digitale Welt und die Freude des analogen Lebens 1.0. Lassen wir unser Gehirn 4.0 das tun, was es am liebsten tut: arbeiten. Mit unseren fünf Sinnen, die unser Gehirn zu einem Gesamtbild verarbeitet. Dem Abbau von Stresshormonen und Anschub der Dopaminproduktion bei Bewegung. Dem haptischen Erlebnis beim Blättern in Lexikon oder Atlas. Einen Vorteil hat die Kombination von Hirn und Internet auf jeden Fall: Mit den Erinnerungen, die Sie vom letzten Dia-Abend im Gedächtnis haben, finden Sie im Internet mit Sicherheit den Ortsnamen wieder und können ganz bequem online gleich die nächste Reise dorthin buchen. Merken Sie es? Die Dopaminproduktion in Ihrem Gehirn läuft schon auf Hochtouren, ganz analog.

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