Die Beurteilung der Finanzmärkte fällt aktuell sehr polarisiert aus. Einige Expertinnen und Experten befürchten das Platzen von Blasen, andere sehen die Aktienkurse in diesem Jahr von Höchststand zu Höchststand eilen. Daneben gewinnt die These an Bedeutung, die Finanzmärkte und die Realwirtschaft würden sich inzwischen in zwei völlig unterschiedlichen Welten bewegen. Wir baten Klaus Wellershoff im folgenden Interview um eine nüchterne Einschätzung der turbulenten Situation.

Viele Ihrer Kolleginnen und Kollegen sehen aktuell sehr rosig in die Zukunft. 2021 könnte eigentlich ein guter Jahrgang werden. Schauen wir nur auf die prognostizierten Wachstumszahlen: China acht Prozent, USA über vier und Europa knapp vier Prozent. Dazu passen die weiterhin niedrigen Zinsen durch die Politik der Zentralbanken und die expansive Fiskalpolitik. Das sieht doch auf den ersten Blick gut aus?

Dass die Prognosen relativ hoch ausfallen, ist nach dem anfänglichen Schock in einer Rezession, wie wir sie ab Frühjahr 2020 erlebt haben, normal. In den Industrienationen operieren wir zu Jahresbeginn immer noch erst auf gesamtwirtschaftlichen Auslastungen unserer Kapazitäten zwischen 93 und 98 Prozent. Zum Vergleich: Am Tiefpunkt der Finanzkrise 2007/08 waren wir im Schnitt bei 98 Prozent. Wer glaubt, dass wir wieder in Richtung einer Normalauslastung gehen, muss hohe Werte prognostizieren. Dass das in diesem Jahr angesichts der jüngsten Corona-Zahlen möglich ist, halte ich für sehr ungewiss. Dass die Zentralbanken weiter die Zinsen versuchen tief zu halten und dass die Regierungen nochmals mit grossen Defiziten versuchen, die Konjunktur anzutreiben, zeigt, wie fragil die Lage noch ist.

Und die Aktienmärkte eilen von Rekordstand zu Rekordstand. Bestätigt dies nicht den positiven Ausblick?

Nicht unbedingt. Natürlich gibt es einen Zusammenhang zwischen erwartetem Wachstum, Unternehmensgewinnen und damit auch den Aktienkursen. Das ist aber nicht das Einzige, was zählt. Genauso wichtig ist die Frage der Zinsentwicklung. Tiefe Zinsen bedeuten, dass zukünftige Erträge heute mehr wert sind als bei hohen Zinsen. Die super aggressive Gangart der Geldpolitik ist für die heutigen Aktienkurse wohl mehr verantwortlich als der Konjunkturausblick.

Bei der aktuellen Beurteilung der Finanzmärkte lässt sich eine polarisierte Form beobachten. Die aktuelle Beurteilung an den Aktienmärkten oder auch dem Potenzial von Kryptowährungen und der von neuen Akteuren die schwächelnden Firmen wie Gamestop nach oben schieben, könnte kaum unterschiedlicher sein.

Das passt zu unserer Zeit. Wir alle neigen in den letzten Jahren immer mehr dazu, die Dinge schwarz oder weiss zu sehen. Die Wirklichkeit ist aber eher bunt.

Nehmen wir die Seite, die das Platzen von Blasen erwartet. Es geht dabei nicht nur um die üblichen Pessimisten, die wir wie Nouriel Roubini seit der Finanzkrise kennen, sondern auch um den CEO von Allianz. Solche Verantwortungsträger fallen im Normalfall nicht als Kassandra auf. «Wir machen uns sehr grosse Sorgen um das Thema Finanzmarktstabilität», sagte Vorstandschef Oliver Bäte. «Da kauft irgendeine Celebrity irgendeinen Bitcoin und dann explodierten die Preise.» Wie schätzen Sie diese Positionen ein?

Genau gleich. Das liegt aber vor allem daran, dass wir es seit der Finanzkrise 2007/2008 versäumt haben, dass Kreditwachstum zu begrenzen. Selbst in der scheinbar soliden Schweiz ist die Verschuldung unglaublich stark gewachsen. Unser Kreditvolumen ist seit der Finanzkrise um zwei Drittel gewachsen, unser Volkseinkommen aber nur um ein Viertel. Mit mehr Schulden ist die Situation für die Schuldner und damit auch für das Finanzsystem riskanter geworden. Aber nicht nur das. Auch das tiefe Zinsniveau macht die Finanzmärkte volatiler. Wenn die Zinsen fallen, empfinden wir das nicht als systemgefährdend. Wenn die Zinsen aber wieder steigen, kann sich das schnell ändern. Und schliesslich kann man den enormen Anstieg von Bitcoin auch als erstes Anzeichen für Misstrauen der Anleger gegenüber dem ewigen Mehr an Geld und Schulden interpretieren. Das ist keine Situation, in der wir uns beruhigt zurücklehnen dürfen.

Auf der anderen Seite sehen wir die Optimisten, die nach der Pandemie eine V-Erholung sehen. Das billige Geld der Zentralbanken, die erfolgreiche Bekämpfung der Pandemie und die Minimierung politischer Risiken, wie die Abwahl von Trump würden zu neuen Höchstständen in diesem Jahr führen. Liegen Sie richtig?

Das mit dem V hat ja letztes Jahr nicht geklappt. Im dritten Quartal des vergangenen Jahres gab es eine starke Gegenbewegung nach dem Einbruch in der Wirtschaft im Frühjahr. Im vierten Quartal hat die Konjunktur aber schon wieder mehr oder weniger stagniert. Und für das erste Quartal in diesem Jahr sieht es nicht viel besser aus. Dass irgendwann der Aufschwung kommen wird, und dass der zumindest anfänglich auch von den enormen Stimuluspaketen profitieren wird, ist auf der anderen Seite schon zu erwarten. Wenn alles gut geht, dürfen wir für die zweite Jahreshälfte vielleicht optimistisch sein. Ob das dann der Börse helfen wird, ist aber wieder eine andere Frage. Denn da sind ja noch die Zinsen und die müssten im Aufschwung eigentlich deutlich steigen.

Der Zug der Finanzmärkte fährt los, allerdings bleiben einige Wagons zurück. Wenn ich im stationären Handel bin oder eine Brauerei führe, schaue ich den Partywagen der Finanzmärkte zunehmend hinterher. Lassen Sie uns die positiven Zahlen nüchtern einordnen. Das Volkseinkommen ist in den letzten Jahrzehnten hinter den Aktienwerten hinterhergehinkt. Das spricht doch für die These der Entkopplung von den Finanzmärkten und grosser Teile der Realwirtschaft?

In der Tat reden viele Menschen von einer Entkopplung der Finanzmärkte. Das ungute Gefühl, das da zum Ausdruck kommt, kann ich gut verstehen. Wenn man davon ausgeht, dass Aktienkurse nur durch die Konjunktur beeinflusst werden, sind solche Anstiege, wie wir sie in den letzten Quartalen gesehen haben, unverständlich. Aber da sind ja, wie gesagt, noch die Zinsen. Genau genommen ist die Vorstellung, dass Aktienkurse und Konjunktur Hand in Hand gehen müssten, zu einfach. Aber das ist schwierig zu vermitteln.

Und es gibt einen Zusammenhang zwischen Aktienkursen und Zinsniveau?

Zwischen Aktienkursen, Volkseinkommen und Zinsniveau lässt sich das deutlich beobachten. Zumindest, was die lange Frist angeht. Nehmen Sie die 70er-Jahre. Von 1970 bis 1980 hat sich das US-Volkseinkommen fast verdreifacht. Die US-Börse ist aber über den gesamten Zeitraum kaum gestiegen. Der Hintergrund war der damals durch die zunehmende Inflation ausgelöste starke Zinsanstieg. Oder nehmen Sie die Zeit zwischen Finanz- und Corona-Krise, da war es genau anders herum. Die Zinsen sind deutlich gesunken und die Aktienmärkte sind stärker gestiegen als das Volkseinkommen. Und auch das Beispiel des vergangenen Jahres bestätigt diesen Zusammenhang. Das Volkseinkommen der USA ist zwar um drei Prozent gesunken. Aber die Zinsen sind im Vergleich zum Jahr 2019 deutlich stärker zurückgekommen. Das führt zu steigenden Börsenkursen.

So tiefe Zinsen gab es unter dem Vorzeichen einer Rezession noch nie. Dieser Umstand bestätigt aber die Entkopplungsthese?

Sie haben vollkommen recht. So tiefe Leitzinsen und so tiefe Zinsen für Staatsanleihen hatten wir seit dem Zweiten Weltkrieg überhaupt noch nicht. Was diesmal aber anders und vollkommen neu ist, ist, dass die Zentralbanken auch Unternehmensanleihen kaufen, um die Finanzierungsbedingungen für die Realwirtschaft direkter zu beeinflussen. In allen bisherigen Rezessionen sind die Zinsen für Unternehmensanleihen trotz tieferer Leitzinsen und gefallener Staatsanleiherenditen gestiegen. Ganz offensichtlich waren die Anleger besorgt, dass da die eine oder andere Unternehmung ihre Schulden nicht bedienen können würde. Das ist heute anders. Zu einem solchen Zinsanstieg ist es aufgrund der neuartigen Interventionsstrategie der Notenbanken nicht gekommen. Wenn es eine Entkopplung gibt, dann ist sie hier zu suchen und ihr direkter Auslöser ist die Geldpolitik.

Das führt zu der Frage, welche Rolle heute eigentlich Zentralbanken spielen?

Da legen Sie den Finger auf einen wunden Punkt. Wir scheinen uns daran gewöhnt zu haben, dass die Zentralbanken es schon richten werden. Ob Bankenkrise, Wechselkurs, Konjunktur oder Finanzmärkte, die Zentralbanken liefern uns eine Vollkaskoversicherung, scheinbar, ohne dass wir dafür eine Prämie zahlen müssen. Bei jedem Ungemach wird nach geldpolitischer Intervention gerufen und die Zentralbanken liefern die dann auch im Glauben um die Machbarkeit der wirtschaftlichen Entwicklung. Aber das ist natürlich Unsinn. Weder können Zentralbanken Rezessionen wegzaubern, noch Börseneinbrüche verhindern. Das haben wir ja gerade gesehen. Allenfalls können sie Märkte eine Zeit lang verzerren und stützen. Die Rechnung kommt dann – wie immer in der Geldpolitik – einfach später oder man ignoriert sie. Eine zeitgleiche Wirkung der tiefen Zinsen ist, dass die Vermögensverteilung ungleicher wird. Die Akzeptanz der Marktwirtschaft leidet darunter. So sägen die Zentralbanken an dem Ast, auf dem wir alle sitzen.

Die Entkopplungsthese kann man aber auch mit dem Blick in die Geschichte belegen. Anfang der 70er-Jahre kam das starre Akkumulationsregime der Fliessbandfertigung in Kombination mit Massenkonsum in Turbulenzen. Der Fordismus kam an Produktivitätsgrenzen. Stagnierende Gewinne und Löhne führten zu einer verstärkten Kreditaufnahme. Mit dem Eurogeldmarkt wurde eine staatenlose Form des Giralgeldes eingeführt. Es kam zu immer neuen Einlageformen. Zwischen Ende der Siebziger- und Mitte der Neunzigerjahre haben sich die Welthandelsumsätze verdreifacht, die Devisenmarktumsätze aber verachtfacht. Müssen wir nicht schon hier von einer Entkopplung sprechen?

Welthandel ist sehr real. Da geht es ja um Güter, die in Fabriken produziert und auf Schiffen um die Welt geschickt werden. Die Umsätze an den Finanzmärkten sind dagegen in der Tat deutlich schneller gestiegen. Das hat mit der realen Wertschöpfung unserer Wirtschaft sehr wenig zu tun. Dahinter stehen moderne Finanzinstrumente wie Termingeschäfte und Optionen. Diese können sehr sinnvoll eingesetzt werden, müssen es aber nicht und werden es auch nicht immer. Da würde ich in der Tat auch eine Entkopplung sehen.

Eine neue Dimension erreichten diese neuen Formate durch die technologische Evolution von Cybercash (Neunzigerjahre) und in den letzten Jahren durch Kryptowährungen. Wie beurteilen Sie diese neuen Dimensionen? Sind Kryptowährungen und vor allem die dahinterliegende Technologie Blockchain ein volkswirtschaftlicher und technologischer Gamechanger, oder endet dieser Goldrausch im Platzen einer gigantischen Blase?

Mein Blick auf die Daten zeigt mir, dass es bezüglich unseres Wachstums durch Technologie keine wirklichen Gamechanger gibt. Unser Leben ändert sich, unsere Wünsche und Vorstellungen ändern sich. Das ist das, was ich Gamechanger nennen würde: Klimabewusstsein oder die Sorge um unsere Gesundheit. Die Wirtschaft passt sich an eine veränderte Nachfrage an, wenn man sie lässt. Aber weder die Eisenbahn, noch das Aufkommen der Massenproduktion oder die seit 30 Jahren laufende Digitalisierung haben in irgendeiner Form zu Diskontinuitäten im Wachstum von Volkswirtschaften geführt. Was wir dagegen schon gesehen haben, ist, dass es um die Technologien herum unrealistischen Optimismus und auch Blasenbildung an Finanzmärkten geben kann. Das war bei den Eisenbahnen so oder beim Internet und jetzt ist es vielleicht woanders. Die Grösse der Kryptomärkte ist allerdings im Vergleich zu vorherigen Blasenepisoden eher bescheiden.

Wer sich über hohe Schulden aufregt oder wundert, und das kann man aktuell, darf zu Geldvermögen nicht schweigen. Diese Entwicklung, die in mehrfacher Hinsicht auch eine Entkopplung ist, schleudert doch ganze Gesellschaften durcheinander. Geht diese Entwicklung so weiter, stehen wir in einer gesellschaftlichen Umbruchphase, vermutlich sind wir schon mitten drin. Teilen Sie diese Position?

Unsere Geldvermögen sind gekoppelt an die Geldpolitik. Irgendjemand muss das Geld ja halten, das die Zentralbanken drucken. Und natürlich gilt auch, dass jede Schuld für den, der das Geld verliehen hat, Vermögen darstellt. Wer die Verschuldung reduzieren will, reduziert damit automatisch Vermögen. Das macht die Schuldenproblematik so schwierig zu lösen und ist der Grund, warum nachhaltig denkende Ökonomen mit der aktuellen Geldpolitik nicht einverstanden sein können. Der Widerstand gegen ein Ende der ultra-expansiven Geldpolitik ist aber gross. Wo stünden unsere Pensionskassen, wenn die Finanzmärkte in den Keller gingen und Obligationenanlagen auf einmal nichts mehr wert wären? Der grosse Umbruch in unserer Gesellschaft kommt dann, wenn diese Blase platzt.

Aber was bedeutet dies, wenn man die Entwicklungen der letzten Jahre, auch vor der Umbruch- und Entkopplungsthese nochmals Revue passieren lässt?

Wir reizen unser System aktuell brutal aus. Entschuldigen Sie das altmodische Beispiel, aber das ist so, als ob man einen Verbrennungsmotor immer höher drehen lässt. Irgendwann reisst der Ölfilm, der den Kolben schmiert, und dann ist es vorbei mit dem Motor. Dabei hätte der Motor noch lange gut funktioniert. Aber offensichtlich fehlt uns die Einsicht oder der Mut zu sagen, dass wir, wenn wir so weitermachen, unser System, das draussen in der Welt Milliarden von Menschen aus Hunger und Not befreit und uns Wohlstand und Freiheit garantiert hat, so an die Wand fahren.

Klaus W. Wellershoff leitet das Beratungsunternehmen Wellershoff & Partners.

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