In den vergangenen Jahrzehnten haben aufstrebende Länder mit rasanten Wachstumszahlen die Weltwirtschaft angekurbelt. Auch China gehörte zu den Hoffnungsträgern, doch 2015 fiel das Wirtschaftswachstum auf den niedrigsten Wert seit 25 Jahren. Das Land versucht mit einem Umbau seiner Wirtschaft entgegenzusteuern. Ausländische Unternehmen sollten sich darauf einstellen.

Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika – die sogenannten BRICS-Staaten sind in den vergangenen Jahren regelmässig als Wachstumsmotoren der Weltkonjunktur gefeiert worden. Doch seit geraumer Zeit macht sich Ernüchterung breit, denn in den fünf Staaten läuft die Wirtschaft nicht mehr rund. Auch China hat sich seit 2011 von den zweistelligen Wachstumsraten seines Bruttoinlandprodukts (BIP) verabschiedet. 2015 sackte das Wachstum auf 6.9 Prozent ab – auch ausländische Unternehmen sind seitdem besorgt um das zukünftige Marktpotenzial in China.

So dramatisch ist die Lage in China allerdings nicht, das verdeutlichen auch die Grössenordnungen des Wachstums: Wenn die chinesische Wirtschaft – mittlerweile die zweitgrösste Volkswirtschaft der Welt – um 6.9 Prozent wächst, entspricht dies dem gesamten Bruttoinlandprodukt der Schweiz im Jahr 2015. Welche Entwicklung die Volksrepublik in den vergangenen Jahrzehnten geschafft hat, zeigt auch folgendes Beispiel: Das Land exportiert in rund sechs Stunden so viel wie 1978 in einem ganzen Jahr.

Kontrollierter Abschwung oder harte Landung?
Den hohen Wachstumszahlen der Vergangenheit zum Trotz ist China immer noch ein nicht voll entwickelter Markt (Emerging Market). In der Zukunft wird das Land weiter höhere Wachstumszahlen um die fünf Prozent brauchen, um zu den entwickelten Volkswirtschaften aufzuschliessen.

Im Vergleich mit den BRICS-Staaten Russland, Brasilien oder Südafrika kann in China allerdings von einem Wachstumseinbruch nicht die Rede sein: Zweistellige BIP-Wachstumszahlen wie vor der Finanzkrise 2008 / 09 sind zwar auch dort vorerst nicht zu erwarten. Doch bislang verläuft der Abschwung kontrolliert und folgt einem Trend, der sich bereits seit 2011 abzeichnet. In den kommenden Jahren wird sich das Wachstum weiter abschwächen und auf fünf Prozent zusteuern. Die Schlüsselfrage lautet, ob dies auch weiterhin kontrolliert geschieht oder ob eine harte Landung zu erwarten ist.

Seit 2006 nimmt der Anteil der industriellen Produktion am BIP kontinuierlich ab. Die klassischen Wachstumsmotoren der einstigen «Werkbank der Welt» allein reichen nicht mehr aus, um die Wirtschaft voranzubringen. Chinas Regierung weiss um die Probleme: Den Startschuss für einen grundlegenden Strukturwandel gab Peking 2013, als eine Reihe ehrgeiziger Modernisierungsprogramme verkündet wurde. Dem Land mit seinen rund 1.36 Milliarden Einwohnern steht nun auf grösserer Skala ein Wandlungsprozess bevor, wie ihn Japan in den 60er-Jahren und Südkorea in den 80er-Jahren durchgemacht haben. Die Produktion soll hochwertiger und innovativer werden, chinesische Betriebe sollen nicht nur am unteren Ende der Wertschöpfungskette vertreten sein. Der Dienstleistungssektor und der Binnenkonsum sollen zu den wichtigsten Säulen der Wirtschaft werden. Die Reformen kommen allerdings nur stockend voran: Staatseigene Betriebe dominieren weiterhin grosse Teile der Wirtschaft. In diesen schwerfälligen Unternehmen Reformen durchzusetzen erweist sich auch innenpolitisch als schwierig. Wenn Marktmonopole gebrochen und unrentable Unternehmen geschlossen werden, drohen Massenentlassungen. Dies will die auf Stabilität bedachte chinesische Regierung vermeiden.

Licht und Schatten beim Wandel
Der Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft und einem von Konsum getragenen Wirtschaftsmodell ist bereits spürbar: 2015 betrug das Wachstum der Industrie noch 5.9 Prozent, der Dienstleistungssektor legte im gleichen Zeitraum um 8.3 Prozent zu. Sein Wachstum konnte den Abschwung vor allem in der Schwerindustrie teilweise abfedern. Erstmals trug 2015 der Dienstleistungsbereich mehr als die Hälfte zum BIP bei. Ein Erfolg für die chinesischen Wirtschaftsstrategen, dennoch macht die Zahl auch deutlich, dass noch ein weiter Weg zu gehen ist: In der Schweiz beispielsweise beträgt dieser Anteil um die 70 Prozent.

Neben der Produktion fiel 2015 auch die Investitionstätigkeit in China von extrem hohen Wachstumsraten von um die 16 Prozent auf zehn Prozent. Gründe hierfür sind die bereits aufgebauten massiven Überkapazitäten, etwa bei Stahl, sowie ein schwächelnder Immobiliensektor. Mögliche negative Folgen dieser Entwicklung wurden durch die unvermindert gute Konsumlaune der Chinesen abgemildert. Diese hält auch im neuen Jahr an: Um das gerade zu Ende gegangene chinesische Neujahrsfest verzeichneten Einzelhandel und Gastronomie ein Plus von 11.2 Prozent im Vergleich zur Vorjahresperiode. Begründet liegt diese Entwicklung in einem stabilen Arbeitsmarkt und steigenden Einkommen: Im vergangenen Jahr wurden 13.1 Millionen neue Stellen geschaffen – und damit mehr als die von der Regierung angepeilten zehn Millionen, das verfügbare Einkommen stieg inflationsbereinigt um 7.4 Prozent. Schwächen in der Industrie oder dem Baugewerbe werden durch stärkeres Wachstum in anderen Bereichen ausgeglichen: Gestützt durch staatliche Förderprogramme stieg zum Beispiel die Zahl der Unternehmensgründungen 2015 um 21.6 Prozent auf 4.4 Millionen. Neue Firmen entstehen vor allem auch im Dienst­leistungssektor rund um das mobile Internet. Der Umsatz des Online-Einzelhandels etwa wuchs um 33.3 Prozent. Er ist nur ein Beispiel für die hohe Dynamik, die sich gerade um das Internet und in der IT-Branche entfalten.

Chinas Regierung im Dilemma
Es gibt also durchaus Fortschritte im Bemühen, China in eine hoch entwickelte Dienstleistungsgesellschaft zu verwandeln. Noch hat das Land alle Chancen, diese Evolution ähnlich wie vorher Japan oder Südkorea erfolgreich zu meistern. Andererseits ist der ersehnte Strukturwandel noch lange nicht vollbracht. Die neuen Wachstumstreiber tragen zwar dazu bei, die riesige chinesische Volkswirtschaft zu stabilisieren. Das von der Regierung 2016 angepeilte Wachstum von zwischen 6.5 und sieben Prozent wird ihre Kraft nicht ausreichen. Das wird nur durch eine Stärkung der Investitionstätigkeit und der Produktion möglich sein. Doch staatliche Zuschüsse oder Investitionen in grosse Infrastrukturvorhaben, die wie zuletzt 2009 herhalten mussten, um die chinesische Wirtschaft am Laufen zu halten, werden immer mehr zum Risiko: In den vergangenen Jahren wurden durch fehlgeleitete oder übermässige Investitionen massive Überkapazitäten angehäuft, etwa im Bereich der Schwerindustrie, aber auch bei Immobilien. Die Regierung steckt in einem Dilemma: Sie hat Angst, dass das Wachstum unter 6.5 Prozent fällt, gleichzeitig würde sie längerfristig die Wirtschaft gefährden, wenn sie durch Geldspritzen kurzfristig die Wachstumszahlen hochtreibt, aber nötige Reformen verlangsamt.

Investoren müssen ihre Schritte sorgfältig planen
Der bisher ungebrochene Enthusiasmus ausländischer Unternehmen über das chinesische Wirtschaftswachstum weicht derzeit einer Ernüchterung. Eines ist sicher: Die Zeiten einfachen Geldverdienens in China sind vorbei. Wer dort aktiv werden will, muss sich genau überlegen, in welche Branchen er einsteigen möchte. Internationale Unternehmen, die nach China wollen oder bereits vor Ort sind, müssen vor allem ihre Erwartungshaltung anpassen: Der chinesische Markt bleibt auch bei geringeren Wachstumszahlen gross und attraktiv. Nur haben einige Wirtschaftszweige an Wachstumsdynamik verloren, während andere neue Wachstumschancen bieten. Eine weiter wachsende kaufkräftige Mittel­schicht von knapp 300 Millionen Menschen ist eine gute Voraussetzung dafür, dass Konsum, Tourismus und auch die Gesundheitsbranche mit Zuwächsen rechnen können. In der Industrie gilt es genau hinzusehen: Zwar verliert sie insgesamt an Bedeutung, die steigende Nachfrage nach Automatisierung im Bemühen um den Aufbau einer «Industrie 4.0» eröffnet aber auch neue Geschäftsmöglichkeiten. Die derzeitige Nachfrageschwäche im Maschinenbau dürfte daher auch nicht von langer Dauer sein.

China verändert sich weiterhin rapide, seine Wirtschaft ist grösser und auch komplexer geworden. Klar ist: Das aus Investitionen und Exporten gespeiste, alte Wachstumsmodel hat seine Leistungsgrenze erreicht. Es gibt positive Entwicklungen hin zu neuen Wachstumstreibern. Doch um weiter wirtschaftlich voranzukommen, muss China den Konsum stärken, in der Industrie wird das Land die Wertschöpfungskette erklimmen müssen. China will wie die asiatischen Tiger in Hongkong, Singapur, Korea und Taiwan die nächste Stufe der Entwicklung erreichen. Für die Wirtschaftsplaner des Landes ist das ein wichtiges politisches Ziel. Kleine und mittelständische Unternehmen in Europa werden mit einer angepassten Erwartungshaltung, dass auch in China die Bäume nicht in den Himmel wachsen, dort weiterhin gut fahren.

Weitere Informationen: www.merics.org/de