Das Team setzt sich aus ETH- und EPFL-Abgängern zusammen.

Rechnungen und Lieferscheine kontrollieren oder Kundenaufträge erfassen ist mit viel repetitiver Arbeit verbunden und omnipräsent im Arbeitsalltag von Büroangestellten. Mithilfe von Künstlicher Intelligenz will das ETH-Zürich-Spin-off-Unternehmen BLP Digital das zukünftig ändern.

Dokumente wie Rechnungen, Lieferscheine, Bestellungen, Mietverträge oder Lebensläufe haben eines gemeinsam: Sie beinhalten Informationen, welche zentral für funktionierende Geschäftsprozesse sind und möglichst schnell und fehlerfrei bearbeitet werden müssen. Bis heute erfolgt ein grosser Teil der Erfassung jedoch noch von Menschenhand, selbst wenn die Dokumente schon in einem elektronischen Datenformat vorhanden sind.

Die grosse Problematik für eine automatische Bearbeitung durch ein Softwareprogramm stellen dabei Tabellen dar. Die darin enthaltenen Werte machen nämlich nur dann Sinn, wenn man ihre Bedeutung im Zusammenhang mit der Position kennt. Sprich, in welcher Zeile und Spalte sie eingetragenen sind. Wohingegen die visuelle Struktur der Tabellen bei Menschen das Verständnis erleichtert, ist bei Computern genau das Gegenteil der Fall. «Computer lesen von oben links nach unten rechts. Abstände oder Fettgedrucktes erkennen sie nicht», sagt Tim Beck, CEO des ETH-Spin-offs BLP Digital. Aufgrund dieser maschinellen Blindheit erkennen bisherige Automationslösungen nicht mal 80 Prozent der relevanten Daten aus Dokumenten automatisch.

Das Ausmass dieses Problems wird deutlich ersichtlich, wenn man sich das Beispiel eines grossen Schweizer Krankenversicherers, der rund 13 Millionen Rechnungen pro Jahr bearbeiten muss, vor Augen führt. Dort müssen trotz Einsatz einer Automationslösung die Daten von über zwei Millionen Rechnungsdokumenten noch manuell ins IT-System eingelesen werden. Aufgrund der sensitiven Gesundheitsdaten besteht zudem nicht die Möglichkeit, die Arbeit an ein Data Center in einem Billiglohnland auszulagern. Die manuelle Kopierarbeit stellt sich dabei nicht nur als mühsam und demotivierend für die betroffenen Mitarbeiter heraus, sondern verursacht auch auf der Unternehmensseite enorme Kosten.

Selbstlernendes System
Solche Prozesse zukünftig deutlich besser zu automatisieren und Mitarbeiter zu entlasten, haben sich die Gründer von BLP Digital zur Aufgabe gemacht. Ihr Ziel ist es, eine Rundum-Software zu entwickeln, die sämtliche semi-strukturierten Dokumente fehlerlos und komplett automatisch prozessiert. Die Basis dafür ist maschinelles Lernen: Die Software soll sich mithilfe grosser Datenmengen stetig selber verbessern und ihr Wissen von bereits verarbeiteten Dokumenten auf neue transferieren.

Die der Software zugrunde liegenden Algorithmen stammen dabei aus zwei Masterarbeiten an der ETH. An diesen forschten die Brüder Beck zusammen mit dem erfahrenen Ex-Google-Manager Pedro Marques und ihrem Team von ETH- und EPFL-Abgängern in der Folge weiter, ehe sie im Herbst 2019 eine Firma gründeten.

Die Essenz der Software stellt eine neuartige Kombination zweier Technologien dar: Bild- und Spracherkennung. Während einige Algorithmen den Text analysieren, untersuchen andere das Dokumentenbild auf Pixelebene. «Damit können wir den Text in Bezug zu seiner Position im Dokument bringen, wie es ein Mensch auch tun würde», sagt Sven Beck, Mitgründer von BLP Digital und Bruder von Tim Beck. Tabellen können so erkannt und nachgebildet werden. Wie der Ingenieur weiter ausführt, sorgen parallel laufende Prozesse, welche die extrahierten Daten mit Daten aus der Vergangenheit und von anderen Systemen abgleichen, für eine doppelte Validierung. Stimmen ihre Resultate überein, ist das Ergebnis mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit richtig. Wir verwenden unterschiedliche Algorithmen für dieselbe Aufgabe. Dadurch beseitigen wir Unsicherheiten», so Sven Beck weiter.

Das ETH-Spin-off-Unternehmen, welches von Innosuisse und dem Schweizerischen Nationalfonds für Wissenschaft unterstützt wird, versucht, die Programmcodes von Anfang an generalistisch zu halten. «So können wir die gleiche Software später für unterschiedliche Anwendungen benutzen», sagt Sven Beck, der sich in seinem Master an der ETH in Robotics, Systems and Control mit der Umgebungserkennung von mobilen Robotern beschäftigte. Dieser Ansatz des System Engineering ist es dann auch, mit dem sich das Start-up von der Konkurrenz unterscheiden will. Denn die gibt es im Markt zuhauf. Alleine in der Schweiz haben sich zwei weitere Start-ups zum Ziel gesetzt, Dokumente automatisch zu erkennen. Was bis heute aber noch niemand ausreichend gelöst hat, ist das Erkennen von Tabellen, sozusagen die Königsdisziplin des Fachs.

Fokus auf die produzierende Industrie 
Mögliche Kunden von BLP finden sich in allen Branchen, wo administrative Prozesse stark auf Dokumenten basieren und viele Ressourcen verschlingen. Besonders betroffen von diesem Problem ist die produzierende Industrie, weil sie die Informationen aus Lieferscheinen für die Produktionsplanung benötigen und deshalb schnell mit den offenen Bestellungen vergleichen müssen. Teil- oder Sammellieferungen sowie Unter- und Überlieferungen machen den Prozess der Lieferscheinerfassung sehr zeitaufwendig. «Da sitzt ein Mitarbeiter schon mal gut 15 bis 20 Minuten an einem mehrseitigen Lieferschein», so Beck. Insbesondere das manuelle Abtippen von Seriennummern und Chargen ist mühsam und fehleranfällig, auch weil die Mitarbeiter im Wareneingang ständig unter Strom stehen.

Auch in der Rechnungskontrolle der Unternehmen sieht es mau aus und viele Unternehmen verpassen regelmässige Skontofristen. Gemäss dem Beratungsunternehmen Deloitte suchen 80 Prozent der Unternehmen deshalb in den kommenden drei Jahren nach einer Automationslösung für den Prozess von der Bestellung zur Eingangsrechnung. «Weil dieselbe Mannschaft immer mehr machen muss, wird Automation im ERP-System immer wichtiger», beschreiben die Brüder. Sie müssen es wissen, denn ihre Eltern führen einen Hersteller für Ressourcen-PlanungsSoftware für produzierende Unternehmen.

Mit Branchenwissen zum Ziel
Die produzierende Industrie war es dann auch, für die sie ihre Dokumentenerkennungs-Software entwickelt haben. Dieses tiefgreifende Branchenwissen ermöglichte es, eine industriespezifische Lösung zu entwickeln, welche Mitarbeiter im Wareneingang und bei der Eingangsrechnungskontrolle Schritt für Schritt unterstützt und den Grossteil der Arbeit komplett abnimmt. Inzwischen sind die mittlerweile zehn Mitarbeitenden hauptsächlich mit der Integration der eigenen Software in weitere ERP-Systeme beschäftigt, sodass zu den rund 50 bestehenden Kunden schnell weitere dazukommen.

Unterstützt werden sie bei allem von Stefan Feuerriegel, ETH-Professor für Wirtschaftsinformatik. Gemeinsam sollen weitere Dokumententypen automatisiert werden. «Bis Ende dieses Jahres wollen wir auch die Auftragsanlage im Vertrieb automatisieren, bevor wir dann Anfang nächstes Jahr auf weitere Dokumententypen für neue Branchen expandieren», sagt CEO Tim Beck. Denn eines sind sich die Unternehmer sicher: Die Corona-Krise birgt ein grosses Potenzial, jetzt administrative Prozesse zu digitalisieren und die richtigen Kosteneinsparpotenziale zu erschliessen. Damit wappnen sich insbesondere KMU rechtzeitig für das einsetzende Wirtschaftswachstum nach der Krise.

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