Reichtum, ein attraktiver Standort und eine unabhängige Geldpolitik können zur Last fallen. Mit dieser paradoxen Situation ist die Schweiz konfrontiert. Wir besuchten eine Veranstaltung des Efficiency Club Basel mit dem Chefökonom von Julius Bär. Im Anschluss führten wir ein Interview. Wie geht es weiter in diesen turbulenten Zeiten?

Die ökonomische Welt der Schweiz befindet sich seit dem 15. Januar in einem Zustand, den sie eigentlich nicht kennt und nicht will. Es herrscht ein chaotischer Zustand. Stimmen Sie dieser gesellschaftlichen Befindlichkeit zu?
Chaotisch ist für mich nicht der passende Begriff. Es herrscht ein gewisser Grad der Verwirrung, und einige betroffene Branchen sind im Ausnahmezustand. Bis kurz vor dem Entscheid der Schweizerischen Nationalbank (SNB) wurde uns ja genau von dieser Seite signalisiert, dass die Schwelle 1.20 für den CHF zum EUR mit allen Mitteln verteidigt werden würde. Da braucht es jetzt eine Phase der Gewöhnung. Insbesondere für Unternehmen, die wenig flexibel sind. Denken Sie an die vielen kleinen Unternehmen, die ihre Kostenbasis in der Schweiz haben.

Die Unternehmen, die nicht zwischen den Standorten pendeln können?
Genau. Multinationale Konzerne sind da anders aufgestellt. Alle Akteure, die tiefe Margen haben, geraten unter Druck. Das Gewerbe in Grenznähe ist besonders tangiert. Akut sind gewisse Branchen wie der Tourismus getroffen. Dort gibt es zwar Buchungen, aber diese können recht rasch storniert werden. Die Alternativen liegen ja – wie Tirol oder Savoyen – direkt in der Nachbarschaft. Die Wucht der SNB-Entscheidung trifft viele hart.

Waren alle so unvorbereitet? Es war doch klar, dass diese Grenze nicht auf ewig zementiert sein konnte!
Ihre Frage kann ich nicht bejahen. Viele Unternehmen haben die vergangenen drei Jahre durchaus genutzt und sich von bspw. EUR/CHF bei 1.30 noch im Frühjahr 2011 auf ein Niveau von 1.20 eingestellt. Die Bemerkung von SNB-Präsident Thomas Jordan, dass man jetzt drei Jahre Zeit hatte, sein Unternehmen fit zu machen, ist nicht ganz unberechtigt. Der Zeitpunkt der Schwellenaufhebung war aber überraschend. Das beginnt schon bei einfachen taktischen Mitteln. Warum wurde die Entscheidung an einem Donnerstagvormittag um 10.30 Uhr bekannt gegeben und nicht an einem Wochenende? In diesem Fall wären die Märkte weltweit geschlossen gewesen, und alle Beteiligte hätten sich für den folgenden Montag besser vorbereiten können; denn der Devisenhandel erlebte ein gefährliches Chaos. Warum wurde nicht bis nach der Griechenland-Wahl zugewartet und zunächst mit den Negativzinsen eskaliert, bevor man die Wechselkursschwelle aufgehoben hat?

Welches Big Picture würden Sie wählen, um den Vorgang zu verdeutlichen?
Es wurde ein Deich weggesprengt. Der Druck auf die Deichmauer war da, und plötzlich werden die Schleusen nicht nur geöffnet, sondern weggesprengt. Dann kennen wir die Auswirkungen … Wir sind mit dem Franken kurzfristig unter die Parität zum Euro gerutscht und liegen heute immer noch mehr als 10 Prozent tiefer als frühmorgens am 15. Januar. Solche Schocks kann ein Unternehmen schwer kompensieren, wenn sie bleibend sind. Wenn sie hohe Margen haben, geht das vielleicht, aber nur wenige Firmen haben diese. Es läuft doch heute fast üblicherweise über die Preisschiene.

Gibt es auch Ansatzpunkte für positive Auswirkungen?
Es verbilligen sich Rohstoffpreise und importierte Vorprodukte. Es kommt darauf an, wie das Unternehmen mit seinen Kostenstrukturen reagieren kann. Umgekehrt können Unternehmen im grenznahen Euroraum Schweizer Unternehmen durch unverhoffte Windfall-Profit-Mechanismen das Leben schwer machen. Sie können ja ihre Preise gegenüber Schweizern erhöhen, aber dann immer noch günstig für diese wirken.

Wie beurteilen Sie aus volkswirtschaftlicher Sicht die Gefahr einer Deflation und damit auch Rezession? Die Preise für Konsumgüter werden jetzt schon massiv gesenkt.
Die Schweiz ist nun in Gefahr, in eine Deflation mit einer kleinen Rezession zu kommen. Das war ja im Euroraum in manchen Ländern auch mal so. Wobei das Deflationsphänomen heute in der Eurozone aus meiner Sicht völlig aufgebauscht wird. Das war ja schon fast hysterisch, was man da kürzlich von der EZB hörte. Die politischen Vorgaben waren offensichtlich. Solange aber die Kernteuerungen deutlich über der Nulllinie liegen, kann ihnen die sogenannte «Head Line»-Inflation als Gesamtteuerung vorerst ziemlich egal sein. Der tiefere Ölpreis spricht nicht für eine kommende Deflationskrise, sondern ist ein Konjunkturbeleber. Die positiven Effekte überwiegen überdeutlich gegenüber den Schwierigkeiten, die vermutlich einige Ölproduzenten haben. Es findet ein grosser Transfer von Kaufkraft von den Produzenten hin zu den Verbrauchern statt. Das wird leicht ausser Acht gelassen.

Sie sehen die Situation im Euroraum nicht so pessimistisch wie andere Stimmen?
Das Runterprügeln des Euros im Verhältnis zum Dollar ist ein wichtiger Vorbote dafür, dass es im zweiten Halbjahr im Euroraum etwas aufwärtsgehen kann, weil die Euroexporte weltweit gesehen preiswerter geworden sind. Mario Draghis Flutung der Märkte mit Liquidität und das billige ÖL zeigen jetzt schon Wirkung. Die Eurozone wird, da lehne ich mich nicht aus dem Fenster, Ende dieses Jahres deutlich besser dastehen wie heute. Das senkt auch die Deflationsrisiken.

Kommen wir auf die schwierige Situation der Schweiz zurück.
Da ist es genau umgekehrt. Wir haben eine Konjunkturdelle vor uns. Dabei hatten wir schon die Inflation um die Nulllinie. Jetzt steht die Schweiz vor einem deutlichen Einbruch des allgemeinen Preisniveaus. Wenn wir uns vom Wechselkurs her zwischen 1.05 und 1.10 einpendeln können, dann haben wir immer noch mit knapp einem Prozent Einbruch des Preisniveaus zu tun. Falls wir aber in Richtung Parität gehen, wird der Preiseinbruch 1,5 Prozent im Minus liegen. Wenn das über längere Zeit anhält, ist dies nach dem Lehrbuch eine Deflation. Und dann haben wir die Debatten über längere Arbeitszeiten und damit Senkung der Löhne am Hals. Schon in den letzten drei Jahren haben wir hier in der Schweiz keine positive Teuerung gehabt. Das vergessen die Leute oft.

Geldpolitische Unabhängigkeit hat ihren Preis: Ist er hier nicht zu hoch?
Die Frage kann man sich stellen. Wir sollten aber einen Blick zurückwerfen. Der Grund, warum die SNB die Schwelle eingeführt hat, war die Gefahr, dass der CHF in Richtung Parität mit dem Euro geht. Jetzt sind wir wieder in dieser Situation. Das wirkt etwas paradox. Man wollte etwas verhindern, und genau an diesem Punkt sind wir jetzt wieder angelangt. Auf den ersten Blick könnte man von einer Verschlimmbesserung sprechen. Das ist aber falsch. Vor drei Jahren standen wir in einem ganz anderen Kontext. Die Eurokrise war wesentlich virulenter wie heute. Zudem hatten die USA eine stotternde Konjunktur. Heute ist das Gegenteil der Fall. Die Eurozone kommt heute aus der Rezession. Wir haben mit der damaligen Währungsentscheidung, eine EUR/CHF-Schwelle bei 1.20 einzuführen, eine kritische Phase überbrückt. Das Umfeld sieht heute wesentlich positiver aus.

Wo pendelt sich der Wechselkurs jetzt ein?
Abrupten Entscheidungen folgen extreme Auswirkungen. Der EUR/CHF-Wechselkurs wird sich wieder auf ein neues Gleichgewicht einpendeln. Wobei es einige Unsicherheiten gibt. Die Entwicklung Griechenlands ist da nur ein Beispiel. Der Kurs um 1.10 wird für die SNB akzeptierbar und die Schweizer Volkswirtschaft erträglich sein. Bei einer andauernden Parität kommen wir in eine Rezession. Das sind die beiden Szenarien. Ich gehe aber nicht davon aus, dass wir mittelfristig wieder bei 1.20 landen werden.

Was kann man als KMU-Verantwortlicher machen?
Das Prinzip Hoffnung führt, wie das naive Rufen nach staatlicher Hilfe, in Sackgassen. Es gilt, aktiv zu werden und kreative Ideen zu entwickeln. Das heisst zum Beispiel Allianzen mit ähnlich gelagerten Unternehmen einzugehen. Kartellbildungen sind damit gerade nicht gemeint. Man kann gemäss einzigartigen Kernkompetenzen eine Wertschöpfungskette unter Gewerblern strategisch aufteilen, um dann zu einer Gesamtlösung zu kommen, die Kunden trotz der höheren Preise überzeugt. Man muss hier über den eigenen Schatten springen.

Der Euroraum schwimmt in Liquidität. An den Börsen wird immer wieder ein Feuerwerk abgebrannt. Mit der realen Wirtschaft hat das oft nichts zu tun. Es wird einfach zu wenig investiert. Besteht nicht die Gefahr von Blasen und damit harten Rückschlägen?
Ja, die besteht. Dass beispielsweise in der Eurozone zu wenig investiert wird, hat zwei Ursachen. Die Banken mussten sich nach der Finanzkrise wieder fit machen. Sie hatten Angst, dass ihr Kreditportfolio sich überdehnt, da in der Wirtschaft zu wenig läuft. Die Nachfrage nach Krediten ist da, aber aus der Sicht der Banken waren das oft nicht die idealen Kunden. Der zentrale Hemmschuh ist aber der Mangel an Strukturreformen in vielen Ländern der Eurozone. Die Politik kann die zarte Blüte des Aufschwungs wieder in den Boden treten. Es braucht das Aufbrechen von alten Strukturen. Unternehmen gehen gerne dorthin, wo sie mit offenen Armen empfangen werden. Die EZB-Politik nützt längerfristig nichts, wenn sie nicht wirtschaftspolitisch begleitet wird. Sonst bleibt das Geld weiter in den Banken stecken. Draghi tut das, was er kann. Er hat schon mehrere Vorlagen gegeben. Die Politik muss nun endlich die Bälle aufnehmen und jetzt ein wirtschaftliches Fitnessprogramm aufgleisen. Ansonsten wird die Eurozone infolge ihrer Marktbedeutung weiterhin in vielerlei Hinsicht auch eine Belastung für uns in der Schweiz bleiben.

Interview mit Janwillem Acket (Chefökonom von Julius Bär) von Georg Lutz